Die Ukraine begrenzt ihre Gegenoffensive nicht bloß auf die aktuelle Frontlinie. Mit Angriffen auf Moskaus Stellungen auf der Krim sowie in Russland selbst könnte sie die Versorgung russischer Soldaten massiv beeinträchtigen. Doch Militärexperte Ralph Thiele ist skeptisch: "Halten die das durch?"

Eine Analyse
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Lange war die Gegenoffensive der Ukraine im Kampf gegen Russlands Invasion angekündigt, lange wartete die Welt auf den großen Schlag. Doch abgesehen von ein paar wenigen Quadratkilometern Geländegewinn, scheint es, als liefen die Bemühungen schleppend.

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Doch das ist nur ein einseitiger Blick auf die derzeitige ukrainische Strategie. Ja, es geht um die Zurückeroberung der besetzten Gebiete. Das Credo, nicht nachzugeben, bis auch der letzte Russe ukrainischen Boden verlassen hat, steht noch immer. Aber um dieses Ziel zu erreichen, arbeiten die Streitkräfte nicht bloß an der direkten Front im Süden und Osten des Landes.

"Der Erfolg oder Misserfolg der Kampagne lässt sich nicht allein in Quadratkilometern messen", schreibt etwa der Journalist Peter Dickinson in einer Analyse für die US-amerikanische Denkfabrik Atlantic Council. Auch der Militärexperte und Oberst a.D. Ralph Thiele sieht in den Bemühungen abseits der Kampfzone Fortschritte. Die Errungenschaften an der Front seien im Grunde nicht nennenswert, erklärt er im Gespräch mit unserer Redaktion. An anderer Stelle habe es allerdings Erfolge gegeben, die Hoffnung machten.

Ukraine nimmt Versorgungsketten Russlands in den Fokus

Russische Radarstellen und Kommunikationseinrichtungen wurden beschossen, genauso wie das russische Marine-Hauptquartier in Sewastopol, wo auch militärisches Führungspersonal eliminiert wurde. "Das sind vielversprechende Anzeichen dafür, dass es der Ukraine nun koordiniert gelingt, russische Führungsfähigkeit zu degradieren und demnach die ersten wahren Erfolgsnachrichten seit Monaten. Die Frage ist aber: Halten die das durch?"

Jenseits der Front arbeite das Militär massiv daran, Russland zu schwächen, schreibt Dickinson in seiner Atlantic-Council-Analyse. Im Hintergrund schränkt das ukrainische Militär die Handlungsfähigkeit Russlands immer weiter ein und schafft damit Voraussetzungen für künftige Vorstöße. Dieser Fortschritt ist laut Dickinson nirgends so offensichtlich wie auf der Krim.

Die Schwarzmeer-Halbinsel ist faktisch seit 2014 von Russland besetzt. Sie gilt im derzeitigen Kriegsgeschehen als Knotenpunkt für die Versorgung russischer Soldaten in der Ost- und Südukraine. Doch in den vergangenen Wochen hat das ukrainische Militär die Krim in den Fokus ihrer Angriffe gerückt und dabei eine Reihe strategisch wichtiger Ziele attackiert.

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Plan der Ukraine: Russlands Aktivität in Cherson und Saporischschja torpedieren

Etwa die Krimbrücke, eine der wichtigsten Transportlinien Russlands. "Durch diese Operationen ist die Ukraine in der Lage, die Nachschublinien der russischen Armee in der Südukraine zu bedrohen", schreibt Dickinson.

Munitionslager, Flugplätze oder Luftabwehrsysteme: Die Ukraine nimmt zunehmend die Ursprünge russischer Angriffe in den Fokus. Dies könnte Dickinson zufolge einen Ausblick auf künftige Aktivitäten geben: die Angriffe auf der Krim ausweiten, um die russischen Bestrebungen in Cherson und Saporischschja zu schwächen.

Und nicht bloß auf ukrainischem Boden arbeitet man daran, Moskaus Logistik zu stören. Auch in Russland selbst greift die Ukraine mittlerweile fast täglich an. Versorgungsketten wie Lagerhallen, Verkehrsrouten, aber auch Produktionsstätten von Waffen geraten in den Fokus. Erst kürzlich schickte die Ukraine Kampfdrohnen auf den russischen Flughafen in Sotschi. Dennoch sei Russland noch immer gut aufgestellt, sagt Thiele.

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Kreml baut Eisenbahnverbindung nach Mariupol

Zudem reagiert der Kreml auf die Entwicklungen auf der Krim. Ein Berater des im Exil lebenden Bürgermeisters von Mariupol berichtet auf Telegram vom Bau einer Eisenbahnverbindung nach Mariupol, Wolnowacha und Donezk. Wenn dies gelinge, könne Russland eine direkte Verbindung zur russischen Stadt Rostow am Don herstellen. "Eine radikale Verringerung der Abhängigkeit von der Eisenbahnverbindung über die Krimbrücke", prognostiziert der Berater.

Neben den Versorgungsketten fokussiert sich die Ukraine zudem auf den Getreidekorridor im Schwarzen Meer, den Russland seit Juni blockiert. Laut Thiele hat sich gezeigt, dass die Ukrainer in der Lage sind, die Sperre in Teilen zu durchbrechen. "Mehrere Getreideschiffe haben es bereits durch die Blockade geschafft, was für die Russen verheerend ist", erklärt der Experte. "Meine Prüffragen wären jedoch: Wiederholt sich das? Verfestigt sich das? Weitet sich das aus?"

Britischer Geheimdienst: Russland weiterhin handlungsfähig

Der britische Geheimdienst dämpft die Hoffnung auf schnelle Erfolge. Die Angriffe seien zwar schwerwiegender und koordinierter als die bisherigen – aber eben lokal begrenzt, heißt es in einem Update des Geheimdienstes. "Die Flotte ist mit ziemlicher Sicherheit weiterhin in der Lage, ihre Kernaufgaben im Krieg zu erfüllen."

Über den Gesprächspartner:

  • Ralph Thiele ist Oberst a.D. und Diplom-Kaufmann. Nach seiner militärischen Karriere entschied sich Thiele für das zivile Leben und ist heute unter anderem Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft sowie Präsident von EuroDefense (Deutschland). Während seiner militärischen Laufbahn gehörte er etwa zum Planungsstab des Verteidigungsministers und zum Private Office des Nato-Oberbefehlshabers.

Verwendete Quellen:

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