In seinem Buch "Nachbeben" will der Bonner Virologe Hendrik Streeck die Hochphase der Corona-Pandemie aufarbeiten. Dabei geht er auch auf die Situation auf den Intensivstationen ein. Christian Karagiannidis und Steffen Weber-Carstens von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) setzen sich im Interview kritisch mit Streeks Aussagen auseinander.

Der Virologe Hendrick Streeck behandelt in seinem Buch "Nachbeben" unter anderem die Situation der Intensivstationen während der Pandemie. Er sagt, dass massiv in Intensivbetten investiert worden sei, die gar nicht belegt oder gebraucht wurden. Was steckt dahinter?

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Christian Karagiannidis: Zu Beginn der Pandemie war niemandem klar, in welchem Ausmaß intensivstationäre Kapazitäten benötigt würden. Wir hatten es mit einem neuartigen Erreger zu tun und mussten uns auf eine ungewisse Situation einstellen – um alle Patienten in einer potenziell lebensbedrohlichen Situation auch behandeln zu können. In diesem Zusammenhang waren mithilfe staatlicher Unterstützung zu Beginn der Pandemie auch in nicht-originären Intensivbereichen, zum Beispiel auf Intermediate-Care-Stationen [hier werden Patienten versorgt, die intensiv betreut werden müssen, aber keiner intensivmedizinischen Behandlung bedürfen; Anm.d.Red.] bis hin zu Normalstationen oder wie in Berlin gar in Messehallen Intensivplätze aufgebaut worden, die dann letztlich zum Glück in diesem Ausmaß nicht notwendig waren und wieder abgebaut wurden.

Also hat Streeck recht?

Steffen Weber-Carstens: Nein, denn dies ändert nichts an der Tatsache, dass zu Spitzenzeiten intensivstationäre Kapazitäten mit schwer kranken, beatmeten Covid-19-Patienten in einem hohen Maße ausgelastet waren und das Personal sehr stark beansprucht wurde. Die damalige Belastung war absolut außergewöhnlich. Ende 2021 beurteilten mehr als 600 Intensivstationen ihre Betriebssituation als "eingeschränkt", rund 250 als "teilweise eingeschränkt" und nur unter 300 als "normal". Das macht deutlich, wie dramatisch die damalige Situation war.

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Wie sinnvoll ist es, Überkapazitäten vorzuhalten?

Karagiannidis: Überkapazitäten für Notfälle vorzuhalten, hat immer einen Zweck. Es ist allenfalls kurzfristig möglich, alle Betten auf einer Intensivstation komplett zu belegen – die Behandlung des nächsten akuten Notfalls ist dann aber nicht mehr möglich. "Das Bett" ist zudem ein Begriff für ein komplettes Team und nicht nur ein Bettgestell oder Technik: Ärzte und Pflegekräfte sind der Kern jeder Behandlung.

Und die lassen sich nicht beliebig skalieren?

Weber-Carstens: Nein. Bei sehr hoher Auslastung wie in der Pandemie war es ständig nötig, Patienten zu verschieben und planbare Operationen abzusagen, damit alle Notfälle ausreichend versorgt werden konnten. Die Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin lautet deshalb, 20 Prozent der Intensivbetten für Notfälle freizuhalten. Realistisch im Klinikalltag auch außerhalb von Pandemien sind mittlerweile eher 10 Prozent.

In einigen Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern oder Schleswig-Holstein, heißt es im Buch, "hätte theoretisch jedem Covid-19-Infizierten ein Intensivbett zur Verfügung stehen können, ohne die Kapazitäten zu überschreiten".

Karagiannidis: Zuerst einmal kann man sich nicht zwei von 16 Bundesländern herauspicken und die anderen ignorieren. Es gab in der gesamten Pandemie natürlich Unterschiede in der Belastung der einzelnen Regionen. In Schleswig-Holstein gab es 2021 recht konstant 700 bis 800 betreibbare Intensivbetten, also Betten, für die es also auch Personal gab und die damit als Behandlungseinheit zur Verfügung standen, jedoch auf verschiedenen Versorgungsstufen. Jeder kann vergleichen, wie viele Covid-Infizierte es zur selben Zeit in der Allgemeinbevölkerung gab. Aber alle kritisch kranken Patienten konnten in Schleswig-Holstein genauso wie im übrigen Bundesgebiet zum Glück behandelt werden.

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Ob die Kapazitäten ohne Allgemeinmaßnahmen ausgereicht hätten, ist hochgradig spekulativ. Zudem waren die Patienten, die nach einem Schlaganfall, einem Herzinfarkt oder einem schweren Unfall auf den Intensivstationen behandelt werden mussten, auch in der gesamten Pandemie immer präsent und mussten versorgt werden. Aus ethischer Sicht sollte grundsätzlich nie versucht werden, Kapazitäten auszureizen. Jeder zweite beatmete Patient ist letztlich verstorben.

Streeck folgert in seiner Betrachtung, dass die tatsächliche Situation auf den Intensivstationen während der Pandemie deutschlandweit "weniger dramatisch gewesen sei als angenommen wird".

Weber-Carstens: Das ist falsch. Während der Pandemie hatten die Intensivstationen eine nie dagewesene Belastung. Covid-19 hat zu einer erheblichen Zahl beatmungspflichtiger, schwerstkranker Patienten geführt. Diese wurden nicht in jeder Klinik zu gleichen Teilen betreut: Vor allem die großen Maximalversorger, Universitätskliniken, haben die meisten Covid-Patienten versorgt. Aber die kleineren Häuser haben entsprechend die zahlreichen anderen Patienten aufgenommen. In einigen Regionen hat auch Klinik A alle Covid-Patienten aufgenommen und Klinik B alle nicht-infektiösen Patienten, um die Ansteckungsgefahr für die anderen Schwerkranken zu minimieren. Das war insgesamt eine logistische Höchstleistung!

Wie sieht der Vergleich mit der letzten starken Influenza-Saison aus?

Weber-Carstens: In der Spitze waren bis zu 6.000 beatmete Covid-Patienten auf den Intensivstationen, während in der letzten starken Influenza-Saison bis zu 3.000 Patienten zeitgleich da waren. Zudem war bei Covid die Beatmungszeit im Schnitt doppelt so lang, mit einer bisher nie gekannten Sterblichkeit von 50 Prozent.

Streeck folgert, es habe nie eine Überlastung des gesamten Systems gegeben.

Weber-Carstens: Ja, ein Kollaps der intensivmedizinischen Versorgung konnte zum Glück vermieden werden und genau das war ja unser Ziel und das Ziel zahlreicher Maßnahmen. Wäre das nicht gelungen, wären wir in die vielfach diskutierte Triage-Situation gekommen: Wen behandeln wir und wen nicht? Das ist der Punkt einer Überbelastung.

"Es war insgesamt eine sehr schwierige Zeit, an der es aus intensivmedizinischer Sicht wirklich nichts, aber auch gar nichts, zu verharmlosen gibt."

Steffen Weber-Carstens

Wir würden aber gerne an den Tag erinnern, als das Robert-Koch-Institut das sogenannte "Kleeblatt" aktiviert hat und Patienten teilweise mit Militärmaschinen zur Behandlung vom Süden der Republik in den Norden geflogen wurden. Zudem wurden in allen Bereichen elektive, also nicht lebensnotwendige Behandlungen, wenn medizinisch verantwortbar, zurückgehalten. Die Umlagerung zugunsten von Covid-Patienten ging im Rückblick zulasten von Patienten mit anderen Krankheitsbildern. Es war insgesamt eine sehr schwierige Zeit, an der es aus intensivmedizinischer Sicht wirklich nichts, aber auch gar nichts, zu verharmlosen gibt.

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