Während zahlreiche große Raubtiere weltweit schwinden, erleben andere Arten dieser Gruppe einen raschen Aufschwung: Der Wolf hat sich in Europa schnell verbreitet. Was laut Forschern dabei oft vergessen wird: Das nützt auch vielen Menschen.
Die Wolfspopulation in Europa ist nach Forscherangaben innerhalb von zehn Jahren um 58 Prozent gestiegen. Die Wiederansiedlung der Wölfe in Europa sei ein bedeutender Naturschutzerfolg, schreibt das Team um Cecilia Di Bernardi von der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften in Riddarhyttan. Das gelte insbesondere angesichts der weitreichenden Landschaftsveränderungen durch den Menschen und die hohe Bevölkerungsdichte.
Die Kehrseite: Jährlich töten Wölfe allein in der EU laut der Studie schätzungsweise 56.000 Nutztiere, was zu Entschädigungszahlungen von rund 17 Millionen Euro pro Jahr führe, berichten die Forschenden in einem Überblick über die Folgen der Ausbreitung im Journal "PLOS sustainability and transformation".
Risiko für Nutztiere
Jeder Wolf reiße im Schnitt rund drei Nutztiere pro Jahr, schreibt das Team um Di Bernardi. Der Gesamtbestand von 279 Millionen Nutztieren sei zwar um ein Vielfaches höher, das Risiko sei jedoch ungleich verteilt. Es bestehe vor allem für draußen weidende Nutztiere in Wolfsregionen.
Schafe und Ziegen machten etwa zwei Drittel der Verluste aus. Aber auch Rinder, Pferde, halbdomestizierte Rentiere und Hunde seien von Wölfen getötet worden. Die Schäden nähmen zu, wenn Wölfe neue Gebiete wiederbesiedelten, sie sänken aber anschließend durch den Einsatz von Schutzmaßnahmen wieder.
Lange Zeit keine tödlichen Angriffe auf Menschen
Tödliche Angriffe von Wölfen auf Menschen wurden nach Angaben der norwegischen Nina-Studie von 2002 bis 2020 in Europa nicht nachgewiesen. In Italien und Griechenland gemeldete Angriffe auf Menschen sind laut dieser Studie höchstwahrscheinlich von Haushunden und nicht von Wölfen verursacht worden. Es habe jedoch seltene Attacken gegeben, die nicht tödlich endeten.
Zu Angriffen könne es etwa kommen, wenn Wölfe über längere Zeit furchtloses Verhalten zeigen und von Menschen bereitgestellte Nahrung wie etwa Abfälle fressen. Aus den drei Jahrhunderten zuvor seien dagegen auch zahlreiche tödliche Angriffe in Europa bekannt - oft durch Wölfe mit Tollwut, die inzwischen in West- und Mitteleuropa als ausgerottet gilt.
"Dass ein Wolf an einem Haus vorbeiläuft oder eine Straße entlanggeht, ist unproblematisch."
Das Risiko für Menschen durch Wölfe sei zwar äußerst gering, aber nicht gleich Null, schreiben die Autoren der Nina-Studie. "Dass ein Wolf an einem Haus vorbeiläuft oder eine Straße entlanggeht, ist unproblematisch." Auch die Sichtung eines Wolfs aus der Ferne stelle kein Risiko dar. "Problematisch wird es jedoch, wenn Wölfe wiederholt aus kurzer Distanz gesichtet werden und dabei keine Vorsicht zeigen oder wenn sie regelmäßig Nahrung menschlichen Ursprungs in der Nähe von Menschen oder Häusern konsumieren."
Wolf hat auch großen Nutzen für den Menschen
Die positiven Auswirkungen von Wölfen für den Menschen werden dagegen nach Forscherangaben oft übersehen. Dazu zählten etwa eine Verringerung von Verkehrsunfällen mit Rehen und anderen Wildtieren, die Reduzierung von Wildschäden in Wäldern und die Förderung des Öko-Tourismus.
Einer Studie im US-Bundesstaat Wisconsin zufolge ging in Bezirken, in denen der Wolf wieder Fuß fasste, die Zahl der Autounfälle mit Weißwedelhirschen im Schnitt um 24 Prozent zurück. Das entspreche "einem wirtschaftlichen Nutzen, der 63-mal höher ist als die Kosten durch nachgewiesene Wolfsangriffe auf Nutztiere", berichteten die US-Forscher 2021 im Fachjournal "PNAS". Der Großteil der Reduktion sei auf das geänderte Verhalten der Hirsche durch die Anwesenheit von Wölfen zurückzuführen - und nicht nur auf einen Rückgang der Population durch Wolfsrisse.
So nehmen die Forscher an, dass Wölfe eine "Landschaft der Angst" erzeugen, die das Verhalten der Hirsche verändere. Die Wölfe nutzen demnach etwa Straßen als Reisekorridor, was das Bewegungsmuster der Hirsche in deren Nähe verändern und damit das Kollisionsrisiko mit Autos reduzieren könne. Somit könnten Wölfe wirtschaftliche Schäden durch Hirsche auf eine Weise mindern, die menschliche Jäger nicht erreichen können.
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Es gibt zwar auch Unfälle mit Wölfen, deren Zahl ist nach Forscherangaben jedoch äußerst gering. "In Wisconsin gibt es jedes Jahr etwa 20 Autounfälle mit Wölfen, verglichen mit fast 20.000 mit Weißwedelhirschen", sagte die Hauptautorin Jennifer Raynor von der University of Wisconsin.
Eine weitere Studie im Fachblatt "Human Dimensions of Wildlife" schätzt, dass in Frankreich Wölfe durch die Dezimierung von Rehen und Wildschweinen jährlich 2,4 bis 7,8 Millionen Euro an Schäden durch Verkehrsunfälle verhindern. Diese und andere mögliche Vorteile seien in Europa jedoch bisher nur unzureichend untersucht und berechnet worden, kritisieren die Forscher um Di Bernardi in der aktuellen Studie.
Besonders hohe Zuwachsrate von Wölfen in Deutschland
Auf dem europäischen Kontinent gibt es nach Schätzung der Forscher 21.500 Wölfe - die in Russland, Weißrussland und Moldau wurden nicht einbezogen. Die drei Kleinstaaten Monaco, San Marino und der Vatikan seien die einzigen Länder auf dem europäischen Festland, in denen es noch keine Wiederansiedlung von Wölfen gebe.
Deutschland zähle zu den Ländern mit einer besonders hohen Zuwachsrate. Dort wurde rund 150 Jahre nach der Ausrottung die erste Geburt eines Wolfsbabys in der Natur im Jahr 2000 nachgewiesen. Im Monitoringjahr 2023/2024 wurden laut Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf 209 Rudel, 46 Paare und 19 Einzeltiere gezählt.
Eine Grundlage für die Ausbreitung der Wölfe sei der umfassende Schutz, etwa durch die EU-Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie oder die Berner Konvention gewesen, schreibt das Team um Di Bernardi. Zudem habe sich der Wolf gut an die dicht besiedelte und vom Menschen veränderte Landschaft anpassen können. Im Gegensatz dazu hätten sich der Eurasische Luchse und der Braunbär weniger stark vermehrt.
EU-Kommission handelt
Angesichts der steigenden Wolfszahlen warnt das Forscherteam vor einer zunehmenden Kontroverse um den Wolf. Entscheidend werde es sein, zu verhindern, dass der Wolf und der Naturschutz insgesamt in "Kulturkriege" verwickelt würden "und als polarisierende Themen wahrgenommen werden, die die Kluft zwischen progressiven und konservativen Ideologien weiter vertiefen". Die Naturschutzpolitik müsse so angepasst werden, dass sie von der Rettung der bedrohten Wolfspopulationen zu ihrem Erhalt übergehe.
Die EU-Kommission möchte ihren Mitgliedstaaten bereits ein schärferes Vorgehen gegen Wölfe ermöglichen. Wölfe sollen lediglich "strengem" und nicht mehr "sehr strengem" Schutz unterliegen, wie sie Anfang März mitteilte. Damit können die EU-Länder den Abschuss der Tiere erleichtern, müssen es aber nicht. Das EU-Parlament sowie die Mitgliedstaaten müssen dem Vorschlag für die entsprechende Gesetzesänderung noch zustimmen. (Simone Humml, dpa/bearbeitet von sbi) © dpa