Der Tod ist wie ein Gewitter. Manchmal sehen wir seine Vorboten wie dunkle Wolken am Himmel, manchmal fühlen wir ihn, bevor er da ist. Manchmal bricht er unvorbereitet über uns herein. Während die einen jetzt rennen, um bloß nicht nass zu werden, bleiben die anderen bewegungslos stehen und starren in den Regen. Kann man denn überhaupt gesund trauern? Und wenn ja - wie?

Ein Interview

Irgendwann, an irgendeinem beliebigen Dienstag oder Freitag, wird ein Mensch, den wir lieben, sterben. So wie auch wir selbst eines Tages sterben. Das wissen wir, aber die wenigsten haben gelernt, wie man sich auf eine gesunde Art verhält, wenn man zum Loslassen gezwungen wird. Wenn Trauer, Leere, Verzweiflung und all diese Gefühle uns überwältigen, die man fast noch mehr fürchtet als die Endgültigkeit des Todes selbst.

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Tobias Rilling ist genau in diesen Momenten an der Seite von Menschen, die einen Verlust erlebt haben. In seinen über 20 Jahren in der Trauerbegleitung hat er viele verschiedenen Nuancen des Schmerzes gesehen. Sprachlosigkeit. Schweigen. Schreien. Wut. Verzweiflung. Flucht. Menschen, die sich in die Arbeit stürzen, um ihren Emotionen zu entkommen. Eltern, die nur heimlich im Keller weinen, damit es nur ja die Kinder nicht sehen. Kinder, die ihren eigenen Schmerz nur fühlen, wenn sie ihn anderen mit Fäusten zufügen. Trauer, die totgeschwiegen wird.

Wir haben mit ihm über gesunden Schmerz, Betretenheit auf Beerdigungen und die lange Tradition des falschen Trauerns gesprochen.

Herr Rilling, haben viele von uns ein ungesundes Verhältnis zum Thema Trauer?

Tobias Rilling
Tobias Rilling © Birte Zellentin

Tobias Rilling: Ja. Eigentlich ist Trauer in unserer DNA verankert. Sie ist eine Basisemotion wie Scham, Freude oder Angst, wir trauern automatisch. Wenn man einem Bären begegnet, denkt man nicht darüber nach, man rennt weg und hat Angst. Wenn man etwas witzig findet, lacht man. Genau so ist es mit der Trauer. Wenn jemand stirbt, kommt Trauer hoch. Das ist uns angeboren und völlig normal.

Hört sich erst einmal nicht problematisch an ...

Es gibt neben lebensfördernder auch lebensbehindernde Trauer. Viele versuchen, diesen Prozess der Trauer zu unterdrücken, weil er negativ besetzt ist. Sie gehen zum Arzt und lassen sich Beruhigungsspritzen oder -pillen geben, um die Trauer nicht leben zu müssen. Dabei will sie uns helfen, mit dem Verlust umzugehen. Es ist falsch, Trauer zu unterdrücken und so zu tun, als wäre nichts.

Trauer nicht leben wollen - wie kann das aussehen?

Zum Beispiel, wenn Leute vor einer Beerdigung darum bitten, von Beileidsbekundungen Abstand zu nehmen. Für mich heißt das: Wir wollen eure Gefühle nicht, wir ertragen sie nicht. Und unsere eigenen Gefühle ertragen wir auch nicht. Bei der Beerdigung ist dann jeder betreten, geht zum Sarg, wirft seine Blumen in das Grab und das war's.

Was wäre bei einer Beerdigung besser?

Das Gegenmodell ist, zu sagen, dass der Verstorbene sich etwa für eine Einrichtung engagiert hat und man um Spenden im Sinne des Verstorbenen bittet. Und zu sagen: Lasst uns alle noch mal zusammenkommen auf seinem letzten Weg. Wir feiern, es werden Reden geschwungen. Wir nehmen würdig Abschied und sind dabei offen für die Tränen aller. Früher wurde das besser gehandhabt.

Wie meinen Sie das?

Früher war der Tod allgegenwärtig. Die Menschen starben zu Hause. Sie wurden drei Tage aufgebahrt, hergerichtet. Da kamen die Nachbarn, um Abschied zu nehmen. Sie kümmerten sich um die Hinterbliebenen, weil sie genau wussten, dass sie gerade nicht ans Einkaufen oder den Haushalt denken. Nach dem Motto: Wir kochen für sie und wenn sie keinen Hunger haben, ist es auch ok.

"Wir schieben das Sterben von uns, verbarrikadieren es ins Krankenhaus oder ins Altersheim. Das ist kein guter Umgang mit dem Tod."

Trauerbegleiter Tobias Rilling

Heute haben wir den Tod nicht mehr täglich vor Augen. Wir schieben das Sterben von uns, verbarrikadieren es ins Krankenhaus oder ins Altersheim. Das ist kein guter Umgang mit dem Tod. Wir brauchen da wieder eine andere Kultur des Wahrnehmens, Zulassens und Erkennens, dass nichts Schlimmes passiert. Und da sind wir in Deutschland – und in vielen Ländern Europas – kulturelle Mängelwesen. Da sind wir Entwicklungsland.

Wo läuft das denn gesünder ab?

Im Nahen oder Mittleren Osten wird zum Beispiel sehr offen und völlig anders mit Trauer umgegangen. Wer es sich leisten kann, kann dort Klageweiber engagieren. Das sind Frauen, die beruflich andere in die Trauer hineintragen.

Wieso fällt es hier vielen so schwer, zu trauern?

Es gibt viele Einflüsse, persönliche, aber auch soziokulturelle. Das sehe ich an mir selbst und meiner Familiengeschichte. Mein Vater wurde groß im Nachkriegsdeutschland. Alles war zerbombt, es ging ums Überleben. Da war kein Platz für Trauer. Mein Vater wurde als emotionales Mängelwesen erzogen - und das hat er an mich weitergegeben. Ich wurde groß mit dem Satz, ein Indianer kennt keinen Schmerz.

Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich keinen Zugang zu meinen Gefühlen habe, keinen Ausdruck dafür. Wie soll ich überhaupt weinen? Ich musste lernen, anders mit meinen Gefühlen umzugehen. Dabei entdeckte ich, dass das Thema Trauer ein großes Thema war, das bei mir einfach brachlag und keine Tradition hatte. Dieses angeborene Gefühl müssen wir als Ausdruck immer wieder kultivieren.

Trauer kultivieren – wie funktioniert das?

Wenn jemand stirbt, gibt es eine Zeit, in der man Trauer nicht verarbeiten kann. Das bezeichnet man als Karenzzeit. In diesen drei Monaten muss man die Trauer aktiv durchleben. Als Außenstehender kann man nur dabeisitzen, zuhören, es aushalten. In dieser Zeit kommt auch kein Trost an, das wäre eher noch belastender. Später, nach diesen drei Monaten, brauche ich Möglichkeiten des Ausdrucks und der Kultur und der Wahrnehmung statt des Unterdrückens. Rituale, gemeinsames Erinnern, der Trauer auch in schönen Momenten Raum geben.

Wie kann so etwas ablaufen?

Ich halte auch Trauungen. In der Vorbereitung schlage ich den Eheleuten zum Beispiel vor, bei der Messe Onkel Hans zu gedenken, der vor zwei Jahren an Krebs verstorben ist. Dann, bei der Hochzeit, kippt die Stimmung in so einem Moment total. Da merke ich sofort, wie plötzlich die Taschentücher rausgekramt werden. Nicht, weil die Mutter jetzt ihre Tochter hergeben muss, obwohl sie ja eigentlich einen Schwiegersohn gewonnen hat. Sie weinen aus Trauer, dass der Onkel nicht dabei sein kann. Und beides hat seinen Platz. Wir gedenken der Verstorbenen in der Fürbitte und dann machen wir weiter. Wenn das Brautpaar aus der Kirche geht, werfen alle Reis, alle freuen sich, es gibt ein großes Fest. Freude und Leid sind Zwillingsgeschwister, sie wohnen in einem Haus, in einem Körper. Und sperre ich die eine weg, sperre ich unbewusst auch die andere weg.

Über den Gesprächspartner

  • Tobias Rilling ist evangelischer Diakon und leitet das Zentrum LACRIMA, Zentrum für trauernde Kinder der Johanniterunfallhilfe im Regionalverband München. Er begleitet und betreut trauernde Familien in Gruppenangeboten oder Telefonsprechstunden und gibt Seminare für Multiplikatoren-Schulungen.