- Emotionen hier, Halbwissen dort: Viele berichten von Streitigkeiten über Corona, die schnell auch eskalieren.
- Der Risikoforscher Ortwin Renn beobachtet, dass sich solche Konflikte durch die ganze Gesellschaft ziehen.
- Im Interview erklärt er die Gründe – und was besser als jedes Argument gegen Verschwörungstheorien hilft.
Krisen schweißen die Menschen zusammen – so hieß es noch in Zeiten, bevor Corona unser Leben veränderte. Abstandsregeln, Corona-Maßnahmen und nun vor allem Debatten über die Impfung hätten nun jedoch zu einer schweren Konfliktsituation in der Gesellschaft geführt, beobachtet der Risikoforscher Ortwin Renn.
Wir haben ihn im Interview gefragt, ob laienhaftes Halbwissen nicht alles noch schlimmer macht und was im Streit mit Verschwörungstheoretikern wirklich hilft.
Sogar mit engen Freunden und innerhalb der Familie: Viele berichten von teils eskalierenden Streitgesprächen über Corona. Gibt das die Stimmung in unserer Gesellschaft wieder?
Ortwin Renn: Durchaus, es ist ein Phänomen, das sich sogar statistisch nachweisen lässt. In der ersten Welle war die Zustimmung zu den staatlich verordneten Maßnahmen hoch. Sie lag in den meisten Umfragen bei um die 80 Prozent. Zwar gab es unterschiedliche Reaktionsweisen – von Unbekümmertheit über Hamsterkäufe bis zur völligen Isolation zu Hause - aber im Großen und Ganzen wurde die Bedrohung als eine gemeinsame Herausforderung wahrgenommen. In der zweiten und dritten Welle zeigten sich schon zunehmend Verdruss und Ungeduld. Jetzt kamen auch mehr und mehr die negativen Nebenwirkungen der Maßnahmen zum Vorschein: die wirtschaftlichen Folgen etwa durch geschlossene Betriebe, häusliche Gewalt, die Bildungssituation der Kinder im Lockdown und so weiter. Es kam zu Konflikten und Debatten, die bis heute andauern und in denen es um die Frage geht: Was ist verhältnismäßig?
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Jetzt in der vierten Welle haben wir infolge der Impfsituation im Lande eine ganz neue Diskussionswelle, und zwar eine Moralisierungsdebatte. Die einen sind geimpft und sagen: Wir wollen wieder alle unsere Freiheiten haben; diejenigen, die sich nicht impfen lassen, sind selber schuld, wenn sie sich anstecken. Die Impfgegner moralisieren ebenfalls. Auch sie argumentieren mit der Freiheit: Sie würden von Politik und Gesellschaft unter Druck gesetzt, sich impfen zu lassen - dabei sei dies eine freiheitliche Entscheidung, die sie selber treffen wollen.
Wie kommt man aus solch einer verfahrenen Situation wieder raus?
Moralische Diskurse sind besonders schwer aufzulösen, weil alle Parteien von sich behaupten, die moralisch überlegenere Position zu vertreten. Es hat zur Folge, dass man sachlichen Argumenten schwer zugänglich ist. Wenn man sich moralisch unter Druck gesetzt fühlt, kann man in der Regel nur gewinnen oder verlieren. Der Kompromiss ist weitgehend ausgeschlossen. Die Auseinandersetzung polarisiert und emotionalisiert diejenigen, die sich daran beteiligen.
Klare Fakten aus der Wissenschaft
Emotionen hier, Halbwissen da: Viele beklagen ja, dass wir über Themen streiten, mit denen sich nur ein Bruchteil der Bevölkerung - nämlich z.B. die Virologen - wirklich auskennt. Hilft das Laien-Wissen überhaupt oder macht es alles nur noch schlimmer?
Ob nun Halb- oder Ganzwissen: Ich glaube, dass die wissenschaftliche Ausgangssituation gar nicht so hochkomplex ist, wie oft behauptet. Nämlich: Sofern man nicht geimpft ist, steckt man sich leicht an, wenn man sich in der Nähe einer bereits vom Virus befallenen Person befindet. Alles andere sind Feinheiten. Das ist eine einfache, nicht schwer zu begreifende Geschichte. Allerdings beruht die Glaubwürdigkeit solcher Geschichten auf Vertrauen in wissenschaftliche Expertisen. Wir machen die Studien zur Infektionsausbreitung oder zur Wirksamkeit von Impfungen ja schließlich nicht selbst. Aus der Wissenschaft wissen wir jedenfalls, dass das Risiko, sich anzustecken oder einen schweren Krankheitsverlauf zu erleiden, mit einer Impfung wesentlich geringer ist. Wir sehen, dass die Krankheit bei den Nicht-Geimpften trotz der relativ hohen Zahl der Geimpften weiterhin um sich greift, und dass die Herdenimmunität noch lange nicht erreicht ist. Dafür müsste der Prozentsatz der Geimpften noch erheblich ansteigen.
Eigenen Standpunkt googeln - jeder wird fündig
Wenn die Fakten eigentlich klar sind, wie kommt es dann zu dieser Kluft?
Halbwissen wird dann problematisch, wenn jemand aus den Informationen den Schluss zieht, dass die Nebenwirkungen größer sind als der Nutzen der Impfung - und sich deshalb nicht impfen lässt. Das ist eindeutig ein Fehlurteil, oder man hat sich schlichtweg aus nicht seriösen Quellen informiert. Nicht einmal Verschwörungstheoretiker behaupten das inzwischen, weil dieser Irrtum so offensichtlich ist. Ihr typischer Einwand lautet: "Die negativen Nebenwirkungen der Impfungen kommen noch!" Und vor allem eines führt zu Fehlurteilen: Wer einen moralischen Standpunkt rechtfertigen will, sucht im Internet nicht nach Fakten, sondern nach Unterstützung – und da wird man immer fündig. Egal wie absurd: Sie werden immer jemanden finden, der abstruse Thesen vertritt, sogar Personen mit Doktor- oder Professorentitel.
Im Streit kommt man mit Argumenten also gar nicht weiter?
Überzeugte Impfgegner lassen sich schwer bekehren und lassen sich auch durch einen Faktencheck nicht überzeugen. Ich stelle das selber in Gesprächen fest: Auf ein Argument heißt es dann, man sei bestochen oder man wisse eben nicht, was 50 Jahre nach der Impfung passieren werde. Das sind K.o.-Argumente, die dann kommen, bis hin zu: Bill Gates oder George Soros stecken hinter alledem ...
Verschwörungstheorien: Anhänger fühlen sich wie "Erleuchtete"
Was macht Menschen anfällig für solche Verschwörungstheorien?
Diese Theorien kommen so gut an, weil sie erstens Unsicherheiten verringern. Solche Unsicherheitsspielräume bleiben in der Wissenschaft nicht aus, gerade in einer Situation, in der immer neue Daten gesammelt und interpretiert werden müssen. Verschwörungstheorien greifen genau solche Unsicherheiten auf und füllen sie mit Gewissheiten. Das ist für viele Menschen eine willkommene Vereinfachung. Zweitens gibt es ihnen das Gefühl, etwas wert zu sein, denn sie wissen mehr als der Rest der Welt. Sie wissen, wer die Fäden zieht. Anhänger von Verschwörungstheorien sind sehr häufig Menschen, die glauben, dass sie wenig Kontrolle in ihrem Leben und in ihrer Umgebung haben. Drittens stiften die Theorien ein soziales Gemeinschaftsgefühl: Ich gehöre zu einer Gruppe von Geheimwissenden, wir stehen als "Erleuchtete" hier solidarisch zueinander. Das sind zusammengefasst die Motive von Verschwörungstheoretikern: mehr Sicherheit, mehr Gefühl der eigenen Kontrolle und soziale Geborgenheit in einer verschworenen Gemeinschaft.
Es gibt viel Kritik an der Politik, nicht ausreichend über die Vorteile der Impfung kommuniziert zu haben. Wäre man gegen diese Motive denn angekommen?
Was man aus der Sektenforschung weiß: Je absurder etwas ist, an das jemand glaubt, desto weniger können Sie ihm diese Haltung mit Information und Argumenten austreiben. Denn dann würde sein ganzer Lebensentwurf zusammenbrechen.
Wenn kein Argument hilft: Auf diese Ebene gehen
Was würden Sie empfehlen, wenn man sich plötzlich in einer handfesten Kontroverse wiederfindet und merkt, dass man mit Argumenten nicht mehr weiterkommt?
Auf der rationalen Ebene, also der Ebene der Vernunft, werden Sie diese Menschen nicht gewinnen. Was zu wenig gemacht wird – und das mag tatsächlich ein Versäumnis der Politik sein: diese schon erwähnten Motive anzusprechen, die jemanden anfällig dafür machen, auf abstruse Theorien hereinzufallen. Das muss aber ohne belehrenden Ton, sondern empathisch geschehen. Es geht darum, den anderen zu überzeugen, dass man die Motive ernst nimmt, aber nicht die dadurch ausgelösten Fehlurteile. Etwa so: "Wenn jemand dir Sicherheit anbietet und dir erklären will, wie die Welt funktioniert, sind das letztlich Tricks, um deinen Wunsch nach Gewissheit zu entsprechen. Diesen Wunsch teile ich auch. Aber das, was dir hier geboten wird, nutzt nur Deine Sehnsucht aus." Damit kann man eher einen fruchtbaren Dialog auslösen als mit einer Belehrung: "Das stimmt einfach nicht, was Du sagst."
Gibt es mehr Menschen, die für Verschwörungstheorien anfällig sind, als bisher gedacht?
Bisher war es für die meisten Menschen unwichtig, ob jemand an Verschwörungstheorien glaubt. Aber jetzt wird es augenfällig und mit der Impfdebatte sind wir mit solchen Theorien viel unmittelbarer konfrontiert. Das führt zu einer verstärkten Konfliktsituation in der Gesellschaft. Die Debatte wird schnell emotional, wenn es zum Beispiel heißt: Wer nicht geimpft ist, gefährdet unsere Kinder, die noch keine Chance auf eine Impfung haben. Umgekehrt fühlen sich viele Ungeimpfte in ihrer Meinung bestätigt, dass Politik und die Mehrheit der Gesellschaft die "wirklichen" tieferliegenden Gefahren aus Unwissenheit, Dummheit oder blankem Zynismus ignorieren.
Verschwörungstheorien: Aus diesem Grund sind sie für viele Menschen so anziehend
Konflikte: Wir sind noch lange nicht am Ende
Wird sich der Konflikt wieder beruhigen, wenn der Impfstoff für Kinder verfügbar ist?
Das glaube ich eher nicht, die Situation kann sogar eskalieren. Ich befürchte, dass weniger Eltern ihre Kinder impfen lassen werden, als man bislang denkt – weil sie den Nutzen für ihr eigenen Kind nicht sehen, da Kinder seltener betroffen sind und der Krankheitsverlauf meist sehr mild verläuft. Warum dann überhaupt Kinder impfen? Ähnliche Argumentationsmuster haben wir in den vergangenen Jahren bei den Impfungen gegen Masern in Deutschland erlebt.
Aufgrund dieser Situation wird es weiterhin gesellschaftlichen Moralisierungsdebatten geben. Die Vertreterinnen und Vertreter von Wissenschaft und Politik werden argumentieren, dass es eben nicht nur um den persönlichen, sondern um den gesellschaftlichen Schutz geht. Je mehr Menschen geimpft sind, desto eher kann Herdenimmunität erreicht werden. Die Debatte wird zunehmend auf die Kinder übertragen – schon jetzt wird damit gerechnet, dass das zu Konflikten in der Gesellschaft, aber auch unter Schülerinnen und Schülern führen wird.
Wird Corona unsere Gesellschaft langfristig verändern?
Ich glaube, dass drei Dinge bleiben werden. Zum einen ein stärkeres Bewusstsein über die generelle Verwundbarkeit der Gesellschaft. "Es wird schon alles gut gehen" – dieses Denken hat Risse bekommen. Zweitens wird das Gefühl der Verwundbarkeit auch mehr und mehr die Haltung zum Klimawandel prägen, wozu auch die Flutkatastrophe dieses Jahres beigetragen hat. Wir sind keine Insel der Seligen, die sich von allen globalen Gefahren fernhalten können. Entsprechende Maßnahmen zum Klimaschutz werden einen höheren Stellenwert einnehmen. Das Dritte: Im Rahmen dieser veränderten Sichtweise werden viele Menschen ihre bisherige Konsumkultur hinterfragen. Brauchen wir wirklich laufend neue Kleidung? Auch die Entschleunigung während der Lockdowns wird einige Spuren hinterlassen. Wir beobachten in vielen Kreisen ein Umdenken: Viele hinterfragen, ob unser Leben wirklich so schnell und getaktet sein muss wie vor Corona.
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