Im Alltag passiert es immer wieder, dass Mitmenschen oder aber wir selbst in aggressive Zwischenfälle verwickelt werden. Aber wie können wir in solchen Fällen reagieren, ohne die Situation weiter eskalieren zu lassen? Karina Hagemann ist Expertin für Kommunikation und Konfliktlösung. Sie gibt Tipps, wie man in solchen Momenten angemessen handelt.
Frau Hagemann, wie reagiere ich richtig, wenn ich einen aggressiven Zwischenfall im Alltag beobachte?
Karina Hagemann: Wenn Sie so etwas mitbekommen, ist Einschreiten oft nicht die beste Lösung. Dadurch ignorieren Sie die Verantwortung der anderen Person - diese kann sich in den meisten Fällen eigenständig wehren und dadurch viel Selbstbewusstsein dazugewinnen. Diese Möglichkeit nehmen Sie der Person jedoch, wenn Sie sich einmischen.
Sollten Sie in Ihrer Rolle Verantwortung haben, etwa als Führungskraft, oder die Person ruft um Hilfe oder es droht Gewalt, schreiten Sie aber selbstverständlich ein. Auch wenn Sie den Eindruck haben, die Person ist völlig überrumpelt und wie gelähmt. Es ist jedoch immer wichtig, die einzelne Situation genau zu betrachten.
Was kann ich tun, wenn ich selbst verbal aggressiv angegangen werde?
Wichtig ist, dass Sie kurz durchatmen und nicht intuitiv reagieren. Die meisten Menschen tendieren instinktiv zu - meist verbalen - Flucht- oder Angriffsmechanismen, die nicht hilfreich für die Situation sind. Ein Konflikt muss nicht per se negativ sein. Eine Klärung kann auch positive Ergebnisse für beide Seiten haben.
Die "Champions League" ist dabei, durch empathisches Zuhören auf den anderen einzugehen. Was braucht der andere und wie kann man darauf hinarbeiten? Meist hilft es wenig, mit Vorwürfen zu kontern. Die "Bundesliga" wäre, bestimmt und respektvoll Grenzen aufzuzeigen. Zum Beispiel: "Ich bin gern bereit, mit dir über dieses Thema zu reden - wenn du mich dabei nicht mehr anschreist."
Wie kann ich vermeiden, dass mich so eine Situation belastet oder ich diese negative Energie an andere weitergebe?
Es ist normal, dass eine solche Situation belastend ist. Negative Gefühle entstehen oft dadurch, dass Bedürfnisse wie Respekt, körperliche Sicherheit und Wertschätzung nicht erfüllt werden. Das Werkzeug der Selbstempathie hilft aus meiner Erfahrung vielen Menschen dabei, emotional besser damit umzugehen und herauszufinden, was genau Sie an der Situation belastet hat.
Die Erkenntnis "DAS hätte ich in der Situation gebraucht!" lässt den Kopf oft klarer werden und bringt Entspannung. Danach können Sie in Ruhe überlegen: "Wie würde ich in dieser Situation in Zukunft handeln?" und Wege finden, wie Sie sich das Bedürfnis noch erfüllen können.
Was kann ich tun, wenn der verbale Angriff zu eskalieren droht und womöglich körperliche Gewalt ins Spiel kommt?
Hier sind die Regeln für Zivilcourage von "Tu was! Zeig Zivilcourage!" e.V. ein gutes Instrument. Wichtig ist, sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Zivilcourage bedeutet nicht unbedingt körperliches Einschreiten. Erst sollten Sie die Situation genau beobachten, denn Zeugenaussagen können im Anschluss sehr relevant sein. Wenn Sie die Situation als gefährlich einschätzen, holen Sie Hilfe. Sich selbst nicht in Gefahr zu bringen, bedeutet auch, körperlich Abstand von der Situation zu wahren. Falls Sie sich nähern, sollten Sie das immer mit Mitstreitern tun.
Viele Umstehende warten oft, dass eine Person die Initiative ergreift. Sprechen Sie andere deshalb direkt an und sagen Sie, was Sie von ihnen brauchen. Falls Sie selbst bedrängt werden, geben Sie Umstehenden ebenfalls genaue Anweisungen. Zum Beispiel: "Sie im roten Pulli, rufen Sie jetzt die Polizei!" So können Sie der Person dabei helfen, ihre eigene Handlungsunfähigkeit oder Unsicherheit zu überwinden.
Es gibt im Alltag viele verschiedene Situationen mit hohem Aggressionspotenzial, die fast jeder schon einmal erlebt hat. Um eine mögliche Konfliktlösung noch besser verdeutlichen zu können, haben wir fünf typische Beispiele zusammengestellt und von der Expertin bewerten lassen.
Beispiel 1: Eine Kassiererin im Supermarkt wird von einem verärgerten Kunden verbal attackiert. Was tun?
Dabei ist wichtig, den Verantwortungsbereich der Kassiererin zu respektieren und ihr die Möglichkeit zu geben, die Situation selbst zu klären. Falls Sie den Eindruck haben, dass Ihr Eingreifen hilfreich ist, können Sie dem Kunden mit Verständnis begegnen. Wichtig ist, dass Sie sich wirklich in den anderen hineinfühlen, anstatt Verständnis vorzuspielen.
Zum Beispiel, wenn der Kunde vergeblich ein Produkt abholen wollte, das ihm wiederholt versprochen wurde: "Wenn ich sie richtig verstehe, wäre es Ihnen wichtig, dass Sie sich auf das verlassen können, was man Ihnen sagt?" Empathie für aggressive Menschen zu zeigen, ist jedoch die höchste Kunst. Davor kommt die Fähigkeit zu lernen, wie man eigenen Unmut äußern kann - ohne dem anderen dabei auf den Schlips zu treten.
Beispiel 2: Ein Ausländer wird in der Bahn beleidigt und angepöbelt. Wie reagiere ich als unbeteiligte Person?
Hilfreich finde ich hier die Tipps der französischen Illustratorin Marie-Shirine Yener. Sie empfiehlt, sich gegenteilig zu verhalten und die ausländische Person in ein freundliches Gespräch zu verwickeln. Dadurch geben Sie der Person Sicherheit und dem Aggressor keine Aufmerksamkeit.
Eine weitere Möglichkeit wäre, den Aggressor zusammen mit weiteren Personen - je nach Gewaltpotenzial nicht allein - darauf anzusprechen, dass sein Verhalten nicht in Ordnung ist. Dabei ist ebenfalls wichtig, der ausländischen Person die Möglichkeit zu geben, eigenständig zu reagieren.
Beispiel 3: Eine Frau wird in einer Bar aufdringlich angebaggert und bedrängt. Sie fühlt sich in der Situation sichtlich unwohl. Wie reagiere ich in diesem Fall, vor allem als Frau?
Hier kommt es darauf an, wie sicher Sie sich fühlen. Wird die Frau etwa von einer Gruppe bedrängt, holen Sie Hilfe. Ist es eine einzelne Person, kann ich mich als Frau so verhalten, als wäre sie meine beste Freundin. So können sie flüsternd fragen, ob sie Hilfe benötigt. Falls ja, verwickeln Sie sie in ein Gespräch und gehen mit ihr weg.
Unabhängig von Ihrem eigenen Geschlecht können Sie auch den Mann ansprechen. Zum Beispiel: "Entschuldigung, es ist Ihnen vermutlich noch nicht aufgefallen - Ihr Flirt schaut sich die ganze Zeit um und wendet sich ab. Ich habe den Eindruck, dass es ihr unangenehm ist und sie sich mit der Situation nicht sicher fühlt. Was meinen Sie?"
Männer wünschen sich tatsächlich häufig deutlichere Aussagen. Gleichzeitig haben viele Frauen die Erfahrung gemacht, dass ein Nein nicht akzeptiert wird und zu weiterer Bedrängung oder Aggression führen kann. Aus diesem Grund bitte ich Männer oft in Trainings, dass sie bei der Körpersprache genau beobachten, ob die Anziehung auf Gegenseitigkeit beruht.
Beispiel 4: Eine Schülergruppe mobbt ein einzelnes Kind. Wie kann man in diesem Fall einschreiten?
Beobachten Sie genau, ob die Grenze zwischen einfachem Ärgern und Mobbing überschritten wird. Falls anwesend, bitten Sie eine verantwortliche Person, zum Beispiel ein/e Lehrer/in, einzuschreiten. Als Außenstehende und nicht verantwortliche Person würde ich nicht eingreifen, da die Schüler auch weiterhin in einer Gruppe sind, wenn ich wieder weg bin. Das kann dazu führen, dass der Schüler noch stärker gemobbt wird. Falls Gewalt im Spiel ist, kommen ebenfalls wieder die Regeln für Zivilcourage zum Einsatz.
Beispiel 5: Ein Kollege lässt seine schlechte Laune an einem anderen Kollegen aus. Raushalten oder einmischen?
Achten Sie dabei darauf, dass Sie sich nicht in den Streit der beiden verwickeln lassen. Sie können im Anschluss an die Situation mit einem oder beiden jeweils unter vier Augen sprechen. Dem aggressiven Kollegen können Sie die Rückmeldung geben, dass sein Ton oder seine Worte auf Sie geringschätzig gewirkt haben - am besten mithilfe eines Zitats aus der Situation - und mit ihm darüber ins Gespräch kommen.
Genauso können Sie den angegriffenen Kollegen fragen, ob Sie aus seiner Sicht etwas tun können, um die Situation zu verbessern. Bei schwereren Ausfällen können Sie auch die Möglichkeit von weiterer Unterstützung, etwa durch die Führungskraft, ins Gespräch bringen.
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