Gesundheit beginnt in vielen Fällen mit einem Gespräch beim Arzt. Doch was, wenn man in der Praxis oder Klinik niemanden versteht und seine Symptome nicht erklären kann? Vor diesem Problem stehen in Deutschland sehr viele Menschen. Nur zum Teil haben sie gesetzlichen Anspruch auf Sprachmittlung. Sie sind vor allem auf Ehrenamtliche angewiesen, die ihnen helfen. Der pensionierte Chirurg Hugo Hildebrand ist einer von ihnen.

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Die Bruschetta und das Glas Weißwein bestellt er in fließendem Italienisch, sein Händedruck ist fest, der Blick klar. Hugo Hildebrand hat weißes Haar, um seinen Hals hängt eine Schlüsselkette. Neben ihm wühlt Labrador "Dino", dem man sein hohes Alter nicht anmerkt, im Kies eines Biergartens im Münchner Westen.

Hugo Hildebrand Sprachmittlung
Hugo Hildebrand spricht neben Deutsch und Englisch auch Italienisch und Französisch fließend - die beiden letzteren Sprachen hat er im Ruhestand gelernt. © Tanja Ransom

Hildebrand ist jemand, mit dem man leicht ins Gespräch kommt, auch dann, wenn es um ernste Themen geht. Jahrzehntelang hat er mit Menschen über Krebs gesprochen, über Behandlungsmethoden, Weiterleben und Sterben. In seinem grünen Poloshirt kann man sich den heute 82-Jährigen auch problemlos im Grün eines OP-Kittels vorstellen. "Ich war immer froh, in der Medizin in einem Bereich zu arbeiten, der für mich sinnvoll war", sagt der ehemalige Chirurg.

Dieser Wunsch nach einer gesellschaftlichen Bedeutung von Arbeit brachte ihn nach seiner Pensionierung zu TranslAid, einem Programm der gemeinnützigen Organisation ArrivalAid, bei dem Menschen mit geringen Deutschkenntnissen Unterstützung bei Arztbesuchen erhalten. Hildebrand ist einer von 200 ehrenamtlichen Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern, die sich dort engagieren.

"Viele Menschen sind in dieser Situation auf sich alleine gestellt."

Sowaiba Formuli, stellvertretende Leiterin TranslAid

"Über tausend Anfragen sind allein von Januar bis September 2024 bei uns eingegangen", sagt die stellvertretende TranslAid-Leiterin Sowaiba Formuli. Das seien jetzt schon so viele wie im gesamten Jahr 2023. Anfragen kämen laut Formuli etwa von der Diakonie, der Caritas oder Geflüchtetenorganisationen. Doch es gebe auch Menschen, die ihr und ihrem Team selbst E-Mails schreiben und Hilfe brauchen. "Viele Personen sind in dieser Situation auf sich allein gestellt", so die Projektverantwortliche.

Formuli spricht aus eigener Erfahrung. Sie selbst ist vor drei Jahren nach Deutschland gekommen und kennt die Probleme, die man etwa bei Behördengängen hat, wenn man kaum Deutsch spricht. Inzwischen hat sie nicht nur Deutsch gelernt, sondern begleitet selbst Personen zu Ämtern oder in Arztpraxen und übersetzt ins Persische. Manchmal sei das schwierig, so Formuli. "Die meisten Menschen in den Praxen und Behörden sind nett, aber immer wieder begegnet uns auch Rassismus", sagt sie. Daneben seien auch die komplexen medizinischen Begriffe mitunter eine echte Herausforderung.

Bundesministerium arbeitet an Gesetzesentwurf

Die zahlreichen Anfragen bei Projekten wie TranslAid, aber auch die Tatsache, dass Ehrenamtliche als Dolmetscherinnen und Dolmetscher einspringen, verdeutlichen den Missstand im deutschen Gesundheitssystem. Zwar gibt es ein Netz aus Sprachmittlern und Dolmetscherinnen, die für ihren Einsatz bezahlt werden. Der Bedarf ist aber deutlich höher als die Zahl der Menschen, die dafür vorgesehen sind. Wie viele das bundesweit sind, dazu liegen keine Zahlen vor, heißt es auf Anfrage unserer Redaktion beim Bundesministerium für Gesundheit (BMG).

Sprachmittlung - so ist die derzeitige rechtliche Lage

  • Im Sozialgesetzbuch V werden Leistungen im Gesundheitswesen geregelt. Dort gibt es derzeit kein Gesetz, das Betroffenen eine Kostenübernahme gewährleistet, die bei der Sprachmittlung entstehen.
  • In bestimmten Fällen werden die Kosten für die Sprachmittlung gezahlt. Menschen, die eine Hör- oder Sprachbehinderung haben, haben laut SGB V Anspruch auf einen Gebärdendolmetscher.
  • Ob die Kosten für die Sprachmittlung bei geflüchteten Personen gezahlt werden, hängt laut BMG davon ab, ob die Gesundheitsversorgung nach Asylbewerberleistungsgesetz erfolgt. Dann können die Kosten vom zuständigen Sozialamt übernommen werden (in den ersten 36 Monaten des Aufenthalts).
  • Beim Bezug von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ist eine Übernahme von Sprachmittlungskosten nicht vorgesehen. Die Übernahme der Kosten könnte beim zuständigen Sozialhilfeträger beantragt werden. Ob eine Gewährung erfolgt, ist vom Einzelfall abhängig.

Doch was ist mit den Menschen, die die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nicht erfüllen und die sich bei Arztbesuchen nicht verständigen können? Auch sie sind auf medizinische Versorgung und Beratung angewiesen. Einen Dolmetscher können sie sich oft nicht leisten und wenn Verwandte oder Freunde übersetzen, kann es zu Missverständnissen, Fehlinterpretationen oder überfordernden Situationen kommen. Die Folge können fehlerhafte Diagnosen sein, eine längere Behandlungsdauer oder im schlimmsten Fall unentdeckte Erkrankungen oder fehlende Hilfe.

Wenn Krisen am härtesten sind, zeigen Menschen ihre beste Seite

Wir haben Grund zur Zuversicht: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass wir Meister im Problemlösen sind - gerade, wenn die Not groß ist. Warum das kein Zufall ist, erklären wir in unserer Wissenschaftskolumne.

Diese Missstände sind der Bundesregierung durchaus bewusst. Im Koalitionsvertrag der Ampel von 2021 heißt es: "Sprachmittlung auch mithilfe digitaler Anwendungen wird im Kontext notwendiger medizinischer Behandlung Bestandteil des Sozialgesetzbuch V." Das hieße, dass Migrantinnen und Migranten die Kosten für Sprachmittlung erstattet bekämen - und Praxen und Krankenhäuser rechtliche Sicherheit hätten.

Wann dies so weit ist? Beim Bundesgesundheitsministerium heißt es nur, dass die Umsetzung, Finanzierung und geschätzten Kosten dort "umfassend eruiert wurden". Die Prüfung der Regelung dauere noch an.

Ehrenamt, wo das System versagt

Wie so oft, wenn das Gesundheitssystem an seine Grenzen stößt, versuchen Ehrenamtliche, einen Teil des Problems abzufangen. Bei TranslAid seien das oft Menschen, die selbst Migrations- und Fluchtgeschichte haben, die andere in einer vergleichbaren Situation unterstützen, sagt Sowaiba Formuli. Dass ein pensionierter deutscher Arzt wie Hugo Hildebrand Personen begleitet, sei eher die Ausnahme.

"Ich spreche mehrere Sprachen und habe medizinische Kenntnisse - es macht einfach Sinn, die Menschen zu begleiten."

Hugo Hildebrand, ehrenamtlicher Sprachmittler

Hildebrand hat 2015 angefangen, Menschen, die geflohen waren, zu unterstützen. Zunächst in einem Helferkreis aus 50 Mitgliedern. Damals begleitete er Frauen, Männer und Familien etwa zu Therapiesitzungen und übersetzte. "Viele dieser Menschen litten an einer posttraumatischen Belastungsstörung", sagt Hildebrand. In diesem Moment sei es für ihn selbstverständlich gewesen, bei sehr persönlichen Gesprächen an der Seite zuvor unbekannter Menschen zu sein. "Ich spreche mehrere Sprachen und habe medizinische Kenntnisse - es macht einfach Sinn, die Menschen zu begleiten."

Die eigenen Stärken nutzen, um zu helfen

Ein oder mehrere Male die Woche wartet er mit ihm bis dahin fremden Menschen in Arztpraxen und Krankenhäusern. An diesem Tag kommt er gerade von einem Übersetzungstermin in der Mammografie. "Jeden Termin, der mir vorgeschlagen wird, nehme ich aber nicht an", sagt Hildebrand. Schwangerschaftsabbrüche zum Beispiel, dafür sei er nicht der Richtige.

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Hildebrand hat viele Menschen durch schwierige Momente begleitet. Mit einer Frau ist er seit Jahren in Kontakt. Als er sie kennenlernte, war sie gerade schwanger. Sie ist HIV-positiv. Vier Kinder habe sie bekommen, alle sind dank der Medikamente, die sie regelmäßig nimmt, ohne das Virus zur Welt gekommen. Hildebrand hatte ihr eindringlich davon abgeraten, weitere Kinder zu bekommen, bereits medizinische Termine in die Wege geleitet. Die Frau entschied sich anders. "Als Arzt habe ich gelernt, dass jeder Mensch das Recht hat, so mit seiner Krankheit umzugehen, wie er oder sie möchte", sagt Hildebrand.

Die beiden haben bis heute ein gutes Verhältnis. Erst vor Kurzem hätten sie gemeinsam ein großes Paket zur Post gebracht. "Sie kennt auch meine Enkel, erkundigt sich immer, wie es mir und den Kindern geht und Dino", sagt Hildebrand. Das sei die Ausnahme, mit den meisten Menschen, die er begleitete, habe sich der Kontakt verlaufen. "Jeder Mensch ist anders", sagt er. Manchmal sei das auch ernüchternd. Etwa, wenn Menschen die Sprache auch nach mehreren Jahren nicht lernten oder die Hilfsangebote, die ihnen gemacht würden, nicht annähmen.

Das trifft auf Joseph nicht zu. Den Senegalesen hat Hildebrand vor Jahren ebenfalls begleitet - heute leben sie in einer Wohngemeinschaft zusammen. Schon als Junge habe er anderen gerne geholfen, sagt Hildebrand. Es gehe ihm dabei um die Bedeutung seines Tuns. Deshalb stehe er "auch weiterhin" zur Verfügung.

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