Wie sieht eine Stadt aus, die für alle da ist? Eine Raumplanerin erklärt, wie eine inklusive Planung die Mobilität, Sicherheit und Klima-Anpassung verbessert – und warum feministische Planerinnen oft den besten Blick in die Zukunft haben.

Ein Interview

Wien gilt international als Vorbild für inklusive und gendergerechte Stadtplanung. Das verdankt die Stadt Eva Kail. Im Interview erzählt die Planerin, warum Wiens Straßen in letzter Zeit wieder dunkler wirken, warum Frauen und arme Menschen besonders von Klima-Maßnahmen profitieren und welche Männer von Planenden oft übersehen werden.

Mehr zum Thema Gesellschaft & Psychologie

Frau Kail, was macht eine Stadt genderneutral?

Eva Kail: Eine gendergerechte Stadt ist eine Stadt für alle. Da sind die Gehsteige breit genug, dass zwei Menschen mit Kinderwagen aneinander vorbeikommen. Ältere Menschen oder Menschen mit kleinen Kindern können ohne Hast eine Straße überqueren, ohne mittendrin auf einer Verkehrsinsel warten zu müssen. Frauen fühlen sich sicher, wenn sie nachts alleine unterwegs sind. Das Thema zieht sich vom Städtebau über die Mobilität bis zur Parkgestaltung auf allen Planungsebenen durch.

Mit dem biologischen Geschlecht hat das alles nichts tun.

Nein, aber mit dem sozialen Geschlecht. Bis heute sind es meistens Frauen, die Care-Arbeit übernehmen, also zum Beispiel die Kinder in den Kindergarten bringen. Und das subjektive Sicherheitsempfinden beeinflusst die Alltagsmobilität von Frauen und Mädchen stärker als die von Männern und Jungen. Da hilft zum Beispiel bessere Beleuchtung. Letztlich geht es beim Gender Planning darum, dass die Stadt fair geteilt wird und möglichst alle Gruppen bei der Planung mitgedacht werden, sich gut durch die Stadt bewegen können und sich wohlfühlen.

"Die Städte wurden von Männern geplant, die morgens mit dem Auto in die Arbeit fuhren und abends wieder zurück – und so sahen sie auch aus."

Eva Kail

Sie beschäftigen sich inzwischen seit mehr als 30 Jahren mit diesem Thema. Wie haben sich die Städte verändert in dieser Zeit?

Als wir 1991 die Ausstellung "Wem gehört der öffentliche Raum? Frauenalltag in der Stadt" gemacht haben, hat in Österreich kein Mensch über Fußgänger*innen-Interessen oder den öffentlichen Raum gesprochen. Die Städte wurden von Männern geplant, die morgens mit dem Auto in die Arbeit fuhren und abends wieder zurück – und so sahen sie auch aus. Heutzutage ist das Thema öffentlicher Raum "hip", die Städte haben erkannt, dass das einer der wenigen Bereiche ist, wo sie unmittelbare Gestaltungsmöglichkeiten haben. Wer wissen will, was in zehn Jahren los ist, sollte auf feministische Planerinnen hören. Sie sind wie Trüffelschweine, weil sie sehr frühzeitig Themen aufgreifen.

Bei vielen feministischen Themen ist nach jahrzehntelangem Fortschritt jetzt ein Backlash zu spüren. Wie ist das in der Stadtplanung?

Als wir Anfang der 90er in Wien damit angefangen haben, gab es eine echte Aufbruchsstimmung. Dann wurde das Thema eine Zeit lang viel weniger diskutiert, hat sich aber in der Verwaltung institutionalisiert. Wir städtischen Akteurinnen dachten, wir altern jetzt alle vor uns hin und finden keinen Nachwuchs. Aber jetzt greift die Generation quasi unserer Enkeltöchter das Thema wieder auf.

Lesen Sie auch

Wie steht Wien bei der gendergerechten Stadtplanung heute im internationalen Vergleich da?

Die Parks und Spielplätze hier sind wirklich gut. Da hatte ich ein echtes Aha-Erlebnis, als ich in Amsterdam und Rotterdam irgendwo am Stadtrand war: derartig deprimierende, lieblose öffentliche Spielplätze! Ein paar Schaukeln auf einer betonierten Fläche. Das gibt es in Wien nicht. Wo wir noch nicht gut sind, ist die Radinfrastruktur. Obwohl in den letzten Jahren schon viel gemacht wurde, sind da andere Städte wie Kopenhagen, aber auch Paris oder Barcelona viel weiter.

Wie beurteilen Sie die deutschen Städte?

In München ist es ähnlich wie in Wien, weil die Stadtbaurätin für Planung sehr frauenbewusst ist. In Berlin gab es immer ein Auf und Ab in der politischen Unterstützung. Einmal bin ich mit einer Freiraumplanerin aus Berlin durch das Stadterweiterungsgebiet Seestadt Aspern gegangen. Als sie den Schulcampus mit seinen Freiflächen gesehen hat, war sie sehr beeindruckt – in so einer Qualität und in so einem guten Zustand wäre das in Berlin nicht denkbar, hat sie gesagt.

Können Sie mal einen Ort in Wien beschreiben, den Sie richtig gelungen finden?

Den Helmut-Zilk-Park im neuen Sonnwendviertel beim Hauptbahnhof. Dort gibt es Freiflächen und einen großen Motorikpark. Direkt neben dem Kinderspielplatz ist ein Café, von dem aus man die Kinder beobachten kann, das WC können alle kostenlos nutzen. Am Vorplatz des Parks stehen Sitzbänke, auch als Freiluftangebot für die Obdachlosen, die sich viel im Bahnhof aufhalten.

Da wurde explizit ein Ort für Obdachlose geschaffen?

Das nicht, aber es wurde eben auch an sie gedacht. Diese Gruppe wird sonst bei Planungen oft vergessen. Sie beobachten gern, halten aber auch gern ein bisschen Abstand zu anderen Parknutzer*innen. Auf diesen Bänken im Helmut-Zilk-Park sehe ich aber leider nie welche – ich glaube, es ist doch zu weit weg vom Bahnhof.

Werden Gender und die verschiedenen sozialen Gruppen in Wien mittlerweile systematisch bei jedem neuen Projekt mitgedacht?

Im unmittelbaren Einflussbereich der Stadt: ja. Bei den Parks sind die Empfehlungen, die wir erarbeitet haben, Teil der Richtlinien. Das ist aber – auch wenn es am Anfang Widerstände gab – eine leichte Übung, weil bei den Parks alles in städtischer Hand ist. Ähnlich ist es beim Wohnen: Wien ist Bundesland und Gemeinde in einem und kann daher über die Bauordnung und die Wohnbauförderung selbst entscheiden. Alle für eine Förderung eingereichten Projekte werden heute nach einer Kriterienliste geprüft.

Und auf dieser Liste stehen Dinge, …

… die aus unseren Modellprojekten entwickelt wurden. Auch beim Thema Straße ist wirklich ein Kulturwandel eingetreten: Fußgänger*innen-Interessen, Angsträume, Beleuchtung. Es ist schwer auseinanderzuhalten, was der Mainstream vom Gender Planning übernommen hat und wo er sich von sich aus qualitativ weiterentwickelt hat, aber es geht ja nicht nur um das Label – wichtig finde ich das alltagsorientierte Ergebnis.

Bei der Beleuchtung kommt es mir allerdings so vor, als wäre sie in den letzten Jahren dunkler geworden. Bilde ich mir das ein?

Ich habe dieses Gefühl auch. Alle versichern mir, das stimmt nicht, aber ich glaube, es liegt daran, dass die Technik-Leute vom Objekt Lampe her denken und nicht von den Straßennutzer*innen her. Die Stadt lässt die alten Leuchten durch LEDs ersetzen, weil die umweltfreundlicher und energiesparender sind und Insekten weniger anziehen – das ist alles auch wichtig. Aber diese Leuchten strahlen weniger weit und das Licht wirkt, glaube ich, schwächer. Für die Techniker*innen zählt nur die in Lux messbare Beleuchtungsstärke, die die Lampe raushaut, und nicht die Beleuchtungswirkung. Dabei macht es einen Unterschied, ob ich an der Stelle eine helle Hauswand habe, die das Licht reflektiert, oder ein dunkles Gebüsch, das das Licht schluckt. Das ist diese Technik-Norm-Denke. Das war übrigens eines meiner Erfolgsrezepte beim Gender Planning.

Was denn?

Um etwas verändern zu können, muss ich soziale Belange und Nutzer*innenperspektiven in eine technische Sprache übersetzen können. Als studierte Planerin habe ich mich da leichter getan als eine Psychologin oder Soziologin. Es gibt bei Techniker*innen ja verschiedene Reaktionen. Bei manchen beißt du auf Watte, die sagen, "Ja, Frau Senatsrätin, wir machen das schon" und dann gehen sie raus und machen genauso weiter wie vorher. Da ist es mir lieber, sie fangen mit mir zu streiten an – dann habe ich eine Chance, sie zu überzeugen.

Sind das denn konstruktive Streits?

Wenn einen das Gender-Thema aus privaten Gründen triggert, ist das sein Problem, das kann ich für ihn nicht lösen, aber ich kann von ihm verlangen, sich professionell zu verhalten. Es gibt aber auch die, die willens sind, aber nicht wissen, wie sie es umsetzen können. Und dann muss ich eben "Beleuchtungsdichte" statt "Beleuchtungsstärke" sagen, wenn ich den Unterschied verstanden habe. Darum habe ich auch so auf Pilotprojekte und Handbücher gesetzt: Damit erreiche ich die Leute auf der fachlichen Ebene. Die schwierigste Ebene ist übrigens die, wo es um strukturelle Dinge geht, um Grundstückspreise zum Beispiel. Das kann die Verwaltung schwer lösen.

"Frauen sind überproportional betroffen vom Klimawandel, profitieren aber auch überproportional von Klimaschutzmaßnahmen."

Eva Kail

Also Themen, wo die Politik Entscheidungen treffen muss.

Und wo auch der Zeitgeist mitspielen muss. Die nächste große Herausforderung, die jetzt mit dem Klimawandel auf uns zu kommt, ist, im dicht bebauten Gebiet die parkenden Autos raus aus den Straßen zu bringen, weil wir den Platz dringend für Bäume brauchen. Das muss ich als Politiker*in aber mal politisch überleben, da geht es ans Eingemachte.

Ergänzen sich in der Stadtplanung Gendergerechtigkeit und Klima-Anpassung oder gibt es da Zielkonflikte?

Es gibt ganz hohe Synergien. Armut ist weiblich und Alter ist weiblich. Wenn ich aus der klimatisierten Wohnung runterfahre in die Tiefgarage und im klimatisierten Auto ins klimatisierte Büro fahre und am Samstag ins kühle Wochenendhaus, dann trifft mich der Klimawandel nicht so stark. Ich nenne das die Kühlkette der Mittel- und Oberschicht. Lebe ich aber in einer kleinen Wohnung in einer dieser Straßen, wo keine Bäume stehen und die aufgeheizten Autos in der Nacht noch zusätzliche Wärme abgeben, trifft mich der Klimawandel viel stärker. Frauen sind also überproportional betroffen vom Klimawandel, profitieren aber auch überproportional von Klimaschutzmaßnahmen. Das gilt auch für den Verkehr.

Inwiefern?

Frauen nutzen häufiger öffentliche Verkehrsmittel und gehen mehr zu Fuß als Männer. Beim Radfahren ist der Anteil der Frauen übrigens ein Indikator dafür, wie gut die Radinfrastruktur ist. Sie sind öfter mit Kindern unterwegs und haben ein rationaleres Verhältnis zu Gefahren – ich sage bewusst nicht, sie sind ängstlicher, sondern sie sind realistischer und verdrängen Gefahren nicht so. Sie profitieren also zusätzlich, wenn sich die Radinfrastruktur verbessert.

Über die Gesprächspartnerin

  • Eva Kail, 66, hat Raumplanung studiert und ab Mitte der 1980er-Jahre für die Stadt Wien gearbeitet. Ab 1992 leitete sie die neu gegründete Abteilung für Frauenangelegenheiten, ab 1997 die daraus hervorgegangene Leitstelle Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen. In den 2000er-Jahren ging diese im "Kompetenzzentrum übergeordnete Stadtplanung, Smart City Strategie, Partizipation, Gender Planning" auf.
  • Auch nach ihrer Pensionierung 2024 hält sie Vorträge von Europa bis Saudi-Arabien und berät Institutionen wie die Weltbank.

Eva Kails wichtigste Projekte

  • Als oberste Verantwortliche für Gender Planning startete Kail ab 1992 eine Reihe von Pilotprojekten, oft basierend auf Befragungen der jeweiligen Zielgruppen.
  • Das Wohnbauprojekt Frauen-Werk-Stadt in Wien-Floridsdorf etwa hat große Kinderwagen-Abstellräume, in die Treppenhäuser scheint Tageslicht, von den Küchen aus sieht man auf die Innenhöfe und Spielplätze.
  • Im Pilotbezirk Mariahilf wurden Gehsteige verbreitert, die Beleuchtung sowie die Ampelzeiten für Gehende verbessert, die vielen Treppen auf den Straßen des hügeligen Bezirks bekamen Schieberillen für Kinderwägen.
  • In Parks ließ Kail Sitzmöbel aufstellen und hohe Gebüsche durch niedrige ersetzen, hinter denen man weniger abgeschottet ist.

Über RiffReporter

  • Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter.
  • Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

  © RiffReporter