Eine Frage, mehrere Antworten: Manchmal hilft es, das eigene Problem aus mehreren Perspektiven zu betrachten. In unserem neuen Format "... und jetzt?" beantworten verschiedene Menschen die intimen Fragen unserer Leserinnen und Leser. Diesmal geht es um unterschiedlich viel Lust in der Beziehung.

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Es gibt mehr als schwarz und weiß, richtig oder falsch. Eigentlich wissen wir das. Doch wir haben uns daran gewöhnt, laute, einfache Antworten zu akzeptieren oder nur die Meinung zu hören, die unser Algorithmus vorgibt. Doch die Welt ist komplexer. Und das, was für jede und jeden von uns richtig sein kann, ist es auch.

Unsere Leserinnen und Leser haben uns für dieses Format intime Fragen geschickt, die sie beschäftigen. Wir haben diese Fragen mit unterschiedlichen Menschen besprochen und unterschiedliche Antworten erhalten, die sich mal ergänzen, mal widersprechen.

Wir glauben: Sobald man andere Meinungen wahrnimmt und die Welt zumindest einen Moment durch andere Augen betrachtet, passiert etwas Wunderbares: Ob man nun der gleichen oder komplett anderer Meinung ist, man kommt dem ganz persönlichen "Richtig" und "Falsch" näher – und damit am Ende auch der individuellen Lösung seines Problems.

Ein und dieselbe Frage - unterschiedliche Antworten

In unserer ersten Ausgabe hat sich ein Leser Antworten auf die folgende Frage gewünscht:

Was kann ich tun, wenn mein Partner keine Intimität möchte, ich aber schon?

Hier lesen Sie die Antworten, die uns Expertinnen und Experten auf die Frage des Lesers gegeben haben:

Paula Lambert: Sex-Drive entsteht durch emotionale Nähe

"Das kann mehrere Gründe haben. Vielleicht will er keine Intimität, weil er sich mit sich selbst nicht wohlfühlt, gestresst ist oder er sich in einer Lebensphase befindet, in der ihn andere Themen sehr beschäftigen.

Paula Lambert
Paula Lambert © Lydia Gorges

Vielleicht will er auch keinen Sex, weil er sich in dieser Beziehung nicht verbunden fühlt, weil ihm emotionale Intimität fehlt. Emotionale Intimität kommt immer vor körperlicher Intimität.

Viele Menschen glauben, dass man Beziehungen gesund vögeln kann, aber das kann man nicht. Sex-Drive entsteht, wenn man sich emotional nah fühlt. Und da würde ich nachfragen, nachfühlen und vor allem auch hinschauen."

Zur Person

  • Die Journalistin und Podcasterin Paula Lambert ist Expertin für Liebes- und Sexfragen.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben und gibt in ihrem Podcast "Paula Lieben Lernen" sowie auf Instagram (@therealpaulalambert) Tipps zu Liebe, Sex und Partnerschaft.

Torsten Geiling: Macht eine enge Freundschaft mehr Sinn?

"Das erlebe ich oft in meiner Trennungsberatung – sowohl Frauen als auch Männer berichten, dass ihr Partner mit der Zeit die Lust verloren hat. Manche sagen: 'Ich liebe meine Frau, aber im Bett funktioniert es nicht mehr. Ich brauche mehr Abenteuer'. Die entscheidende Frage ist dann: Kann ich mit meinem Partner darüber reden?

Torsten Geiling
Torsten Geiling © Torsten Geiling

Gibt es eine Möglichkeit, zum Beispiel durch eine Sexualtherapie, wieder zueinander zu finden? Oder habe ich schon vieles versucht und es ändert sich nichts?

Dann ist Ehrlichkeit gefragt. Man sollte offen mit dem Partner sprechen und gemeinsam überlegen, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Es kann sein, dass die Beziehung unter diesen Umständen nicht funktioniert. Aber unglücklich in einer Beziehung zu bleiben, ist für beide Partner der schlechteste Weg. Oft merkt der eine gar nicht, wie sehr der andere leidet – und umgekehrt.

Ehrliche Kommunikation ist wichtig. Eine Lösung könnte sein, die Beziehung als enge Freundschaft weiterzuführen, während die Sexualität außerhalb stattfindet - wenn beide das wollen. Solche Vereinbarungen gibt es immer wieder. Oft genug führt diese Erkenntnis aber auch dazu, dass die Beziehung letztlich auseinandergeht."

Zur Person

  • Torsten Geiling ist Kommunikationswissenschaftler und systemischer Coach. Er berät und begleitet Menschen, die sich trennen wollen, vor, während und nach einer Trennung.
  • Er schreibt Ratgeberbücher wie "Ich will mich trennen". Sein neues Buch trägt den Titel "Du wusstest doch, dass ich Kinder habe!".

Tanja Hoyer: Für welchen Sex lohnt es sich, Lust zu haben?

"Man kann den Partner nicht dazu zwingen, sich zu verändern, wenn er es nicht will. Das heißt, du bist verantwortlich für deine Sexualität, wenn du mehr willst, aber dein Partner nicht. Die Frage ist: Wie kann es gelingen, dass du dich sexuell erfüllst? Oder wie könnt ihr dafür sorgen, dass ihr beide zufrieden seid?

Tanja Hoyer
Tanja Hoyer © privat

Manche öffnen dann die Beziehung, sodass der eine mehr Sex haben kann und der andere nicht immer unter Druck steht, mehr Sex haben zu müssen. Manchmal gibt es aber auch einen Grund, warum jemand keine Lust hat. Welcher Sex ist der Sex, für den es sich lohnt, Lust zu haben? Wieso ist der Sex nicht so gut, dass du Lust drauf hast? Oder warum hast du Lust auf Sex mit anderen, aber nicht mit deinem Partner? Woran liegt's - und kann man's ändern?

In der Beratung begegnen mir diese Themen oft. Ich versuche dann, mit den Paaren draufzugucken, wie sie beide leben können, ohne sich verstellen zu müssen. Oft braucht es lange und viele Sitzungen, um an dem Punkt weiterzukommen. Wenn diese Fragen so leicht zu beantworten wären, wäre ich arbeitslos."

Zur Person

  • Tanja Hoyer führt eine eigene Praxis im Bereich Sexual- und Paarberatung, Körperarbeit und sexueller Aufklärarbeit.
  • Sie leitet Workshops, gibt Vorträge und Interviews zum Thema Sexarbeit, der sie selbst zehn Jahre lang nachgegangen ist.

Sharon Brehm: Lust kann man sich wie ein Gas- und ein Bremspedal vorstellen

"Intimität und Lust kann man sich wie ein Gas- und ein Bremspedal vorstellen. Es gibt Dinge, die Lust steigern – das Gaspedal. Das ist für jede Person unterschiedlich. Es gibt Menschen mit einem sehr sensiblen Gaspedal – da muss gar nicht viel passieren und sie haben sofort Lust. Die sagen: 'Die Welt könnte untergehen, mir egal – Hauptsache, wir haben Sex.' Und es gibt Menschen, da braucht es sehr viel. Deshalb ist es genauso wichtig, sich anzuschauen: Was drückt auf die Bremse?

Sharon Brehm
Sharon Brehm © Susanne Schramke

Manche haben eine extrem sensible Bremse – da reicht es, dass sie ihr Kind im Nebenzimmer hören und schon ist jede Lust verschwunden. Ich erlebe, dass es helfen kann, sich bewusst zu machen: Wie ist es bei mir? Und dann darüber zu sprechen, was genau diese Lust fördert oder hemmt. Oft bekommt man dadurch mehr Einblick in die Gründe, weshalb es nicht zur Intimität kommt.

Der zweite Schritt wäre, einmal darüber zu reden, was Intimität überhaupt ausmacht. Beginnt sie erst beim Sex? Oder bedeutet Intimität auch schon Kuscheln auf der Couch oder sich küssen? Ich erlebe es in manchen Konstellationen, dass, wenn sich jemand häufig zu Sex oder 'ehelichen Pflichten' überreden lassen musste, die Person irgendwann eine Art Schutzmechanismus entwickelt.

Dann entsteht vielleicht das Gefühl: 'Ich möchte gar nicht, dass es so weit kommt, also sende ich lieber keine falschen Signale.' Und dadurch unterbindet die Person oft alle Schritte, die eigentlich auf dem Weg zur Intimität möglich wären. Nach dem Motto: 'Wenn ich jetzt mit dir kuschle, bedeutet das automatisch, dass ich auch Sex mit dir haben muss.' Und wenn jemand keinen Sex haben möchte, kann es sein, dass er oder sie schon beim Kuscheln 'Nein' sagt – einfach, um gar nicht erst in diese Situation zu geraten."

Zur Person

  • Dr. Sharon Brehm ist systemische Paartherapeutin und bietet Sitzungen in München sowie virtuell an.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben, darunter den "Spiegel"-Bestseller "wiederherzgestellt".

Michael Kühler: Die Kompromisslösung finden

"Es geht darum, zu klären, wer für die Bedürfnisbefriedigung der Partnerperson verantwortlich ist. Wenn man sich liebt, hat man normalerweise das Bedürfnis, dass es der geliebten Person gut geht und dass man selbst dazu beiträgt.

Prof. Dr. Michael Kühler
Prof. Dr. Michael Kühler © Fachhochschule Dortmund/Florian Freimuth

Das heißt aber nicht, dass man alles tun muss, insbesondere, was gegen die eigenen Wünsche und Werte geht. Hier ist offene Kommunikation wichtig – und die Frage, welche Alternativen es geben kann.

Bei einer Liebesbeziehung ist es aber auch oft so, dass ich mit der anderen Person mitleide. Wenn ich zugleich merke, dass sie an etwas leidet, was ich aber aufgrund meiner Identität, meiner Werte unwillig bin zu erfüllen, dann leide ich noch mehr. Bei so einem Konflikt muss man überlegen, wie man den Leidensdruck lösen kann, ohne ihn einfach auf die andere Person zu verlagern.

Man kann versuchen, eine Kompromisslösung in der Mitte zu treffen. Das macht es für beide so halb gut, halb schlecht. Oder man kann auch über andere Beziehungskonstellationen nachdenken, so denn alle einverstanden sind."

Zur Person

  • Prof. Dr. Michael Kühler hat die Professur für "Angewandte Ethik in der gesellschaftlichen Verantwortung" an der Fachhochschule Dortmund.
  • Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Philosophie der Liebe.