Eigentlich hatte Georgine Kellermann ihr Coming-out als trans Frau für den Tag ihrer Pensionierung geplant. Eigentlich. Doch dann kam das Leben und eine ungeplante Begegnung auf einem Bahnsteig dazwischen. Im Interview erzählt die 66-Jährige, wie nur wenige Sekunden ihr ganzes Leben verändert haben und wie sie zu geschlechtsangleichenden Operationen steht.

Ein Interview

Frau Kellermann, Sie haben einmal erzählt, dass Sie dreimal im Jahr Geburtstag feiern – welche drei Tage sind das und was genau wird gefeiert?

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Georgine Kellermann: Bei den drei Tagen handelt es sich um den 17. September, den 19. September und den 21. September: Der 21. September ist mein Geburtstag, am 19. September war meine Offenbarung auf einem Bahnsteig in Düsseldorf und am 17. September habe ich meine neue Geburtsurkunde erhalten.

Lassen Sie uns in der Zeit ein wenig zurückreisen: Gibt es einen konkreten Moment, in dem Ihr Weg ins Frausein konkret begonnen hat?

Nicht wirklich. Streng genommen hat mein öffentliches Frausein erst an diesem besagten 19. September 2019 auf dem Bahnsteig in Düsseldorf begonnen. An diesem Tag habe ich eine Rolltreppe bestiegen und wusste nicht, dass sich mein Leben binnen der nächsten Sekunden komplett ändern wird.

Nehmen Sie uns bitte einmal mit in diese Situation.

Eigentlich war mein Coming-out für den Tag meiner Pensionierung geplant, ich hatte sogar schon ein schwarzes, elegantes Kostüm für diesen Anlass gekauft. Ursprünglich war geplant, meinen Kolleginnen und Kollegen dann zu sagen "Leute, ich habe euch 40 Jahre etwas vorgemacht. Den Georg hat es eigentlich nie gegeben, es gab ihn nur für euch. Ich bin Georgine."

"In diesem Moment wurde mir bewusst, dass diese nächsten Sekunden alles verändern würden."

Georgine Kellermann über ihr ungeplantes Coming-out

Doch es kam alles anders: 2019, fünf Jahre vor meiner Pensionierung, habe ich mir eine Reise nach San Francisco geschenkt, weil ich an meinem Geburtstag, dem 21. September, als Georgine über die Golden Gate Brücke laufen wollte. Am Hauptbahnhof in Düsseldorf, den ich als Georgine betrat, stand ich auf einer Rolltreppe und erblickte während der Fahrt nach oben eine Kollegin. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass diese nächsten Sekunden alles verändern würden.

Sie wurden also gewissermaßen erwischt?

So ist es. Wobei ich eigentlich Vorkehrungen getroffen hatte, nicht erwischt zu werden. Ich trug eine große Sonnenbrille und hätte vermutlich auch rasch an der Kollegin vorbeihuschen können. Doch in diesem Moment legte sich in meinem Kopf ein Schalter um und ich wusste, dass ich dieses Versteckspiel nicht mehr weiter leben möchte. Heute frage ich mich jedoch, ob ich unterbewusst nicht sogar erwischt werden wollte. Und so bin ich auf sie zugegangen und habe sie begrüßt.

Wie hat Ihre Kollegin reagiert?

Sie hat mich mit "Herr Kellermann?" angesprochen und ich habe mit "Ja" reagiert. Sie fragte dann, ob ich verkleidet sei und ich antwortete: "Nein, ich bin eine Frau." Darauf reagiert sie mit "Cool!" In dieser Sekunde war Georg verschwunden.

Und so kamen Sie nach Ihrer Reise als Georgine zurück nach Deutschland – und zurück in Ihren Beruf, wo Sie herzlich empfangen wurden. Fragt man sich rückblickend, ob das Coming-out nicht auch schon zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen wäre?

Natürlich. Ich darf auf ein großartiges Berufsleben blicken, aber ich weiß nicht, ob ich dieses Leben hätte führen dürfen, wenn ich zu einem früheren Zeitpunkt Georgine geworden wäre. Ich kann mich nicht beklagen, ich durfte ein tolles Leben und Berufsleben führen und mein Leben darf gerne noch lange weitergehen. Die 90 zu erreichen, ist auf jeden Fall Pflicht und alles, was darüber hinausgeht, ist Kür. Mein Leben ist seit der Offenbarung nochmal um einen wichtigen Faktor schöner geworden und das möchte ich noch lange genießen.

Über Ihre persönliche Reise schreiben Sie in Ihrem Buch "Georgine – Der lange Weg zu mir selbst. Meine Befreiung als trans* Frau nach über 60 Jahren". Im Titel verwenden Sie den Begriff "Befreiung" – haben Sie sich damals in Ihrem Körper gefangen gefühlt?

Ja. Ich habe den Moment auf dem Bahnsteig in Düsseldorf immer als ein Sprengen einer Eierschale empfunden. Deswegen spreche ich auch bewusst von Befreiung, weil ich jahrelang ein Leben unter einer Schale geführt habe. Auf dieser Schale stand der Name Georg, dabei war unter der Schale Georgine. Durch die Befreiung konnte ich nicht nur aus dieser Schale ausbrechen, sondern sie auch wegwerfen und mich endlich frei bewegen, ganz ohne Angst.

"Ich stelle mich auf Bahnhöfen immer an Wände, damit niemand hinter mir stehen kann."

Georgine Kellermann über Angst im Alltag

Haben Sie als trans Frau dennoch manchmal Angst um Ihre Sicherheit?

Diese Sorge gibt es, ja. Ich stelle mich auf Bahnhöfen immer an Wände, damit niemand hinter mir stehen kann. Steige ich eine große öffentliche Treppe hinab, suche ich zunächst das Geländer, an dem ich mich festhalten kann. Ist das Geländer besetzt, prüfe ich, ob jemand dicht hinter mir geht, denn ich möchte nicht Gefahr laufen, geschubst zu werden. Es gab in der Vergangenheit auch einen Vorfall, bei dem ich massiv bedroht wurde. Natürlich wurde ich auch schon beschimpft, weil es Menschen gibt, die noch nie Menschen wie mich gesehen haben und dieser Situation mit Hass und Häme begegnen.

Die Verwendung des Wortes "trans" und seine Bedeutung

  • "Trans" ist die Kurzform des Wortes "transgender" und wird daher als Adjektiv vorangestellt. Es existiert auch die Schreibweise "trans*", wie sie etwa Georgine Kellermann im Titel ihres Buches verwendet.
  • Zur Definition: Trans Menschen sind laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Menschen, denen bei Geburt ein Geschlecht zugewiesen wurde, das nicht ihrer Identität entspricht.

Hass und Häme werden häufig auch in den sozialen Medien befeuert, wo Menschen sich hinter einem vermeintlich anonymen Account verstecken können.

Das stimmt. Dabei ist das, was bei Twitter oder Instagram passiert, nur die Spitze eines unangenehmen Eisbergs. Doch im echten Leben sieht das Ganze vollkommen anders aus: Die allermeisten Menschen haben überhaupt kein Problem mit mir, meinem Leben und meiner Identität. Die Mehrheit der Menschen begegnet mir respektvoll, zuvorkommend und unterstützend.

Um noch einmal auf Ihr Buch zurückzukommen: Wer sollte es Ihrer Meinung nach dringend lesen? Betroffene oder Kritikerinnen und Kritiker?

Das Buch wurde von mir für Menschen geschrieben, die auf der Suche sind. Weil ihr Leben nicht den üblichen gesellschaftlichen Vorgaben entspricht. Ihnen möchte ich Mut machen. Ich möchte ihnen aber auch zeigen, dass es sich lohnt zu leben, wer man wirklich ist. Genauso richtet sich das Buch aber auch an Menschen, die sich für Menschen wie mich interessieren. Von diesen Menschen hatten die meisten noch keinen Kontakt zu einer trans Person oder wissen gar nicht, welche Wünsche und Realitäten sich hinter diesem Begriff verbergen. Letztendlich richtet sich das Buch aber auch an alle, die trans Personen kritisch bis radikal ablehnend gegenüberstehen. Ich hoffe, dass sie nach der Lektüre verstehen, dass ihre Attacken Menschen treffen, die sich ihr Leben nicht ausgesucht haben.

Für viele trans Menschen spielt eine geschlechtsangleichende Operation vor allem für die äußere Transition eine elementare Rolle. Denn viele von ihnen haben nach den geschlechtsangleichenden Operationen das Bedürfnis, sich "Mann" oder "Frau" und nicht mehr "trans" zu nennen – welche Rolle spielt das Wort "trans" für Sie?

Eigentlich keine. Vielmehr ist das kleine Wörtchen "trans" fast schon eine Entschuldigung. Vor allem am Telefon habe ich meine tiefe Stimme mit dem Zusatz "Ich bin eine trans Frau" entschuldigt. Das mache ich heute nicht mehr. Trans ist noch immer eine Art Wertung, die den Menschen auferlegt wird. Ich hoffe, dass das in zehn Jahren keine Rolle mehr spielt.

Welche Rolle spielt Georg in Ihrem heutigen Leben?

Keine. Aber Georg gehört zu meinem Leben dazu. Immerhin hat Georg mir in meiner beruflichen Laufbahn viele tolle Jahre ermöglicht. Insofern taucht der Name auch immer wieder in meinem Buch auf, ich verstehe aber alle trans Menschen, die sich von ihrem Deadname entsprechend distanzieren.

Was versteht man unter einem Deadname?

  • Laut dem Portal "Echte Vielfalt" ist ein Deadname der Name einer trans Person vor ihrer Transition. Wird eine trans Person mit ihrem früheren Namen statt mit ihrem neuen Namen angesprochen, spricht man von Deadnaming.

Wie stehen Sie zu geschlechtsangleichenden Operationen?

Bei Operationen bin ich persönlich sehr zurückhaltend. Das hängt vor allem damit zusammen, dass ich große Angst vor operativen Eingriffen habe. Insofern spielen sie für mich persönlich keine Rolle, ich kann aber den tiefen Wunsch vieler trans Menschen nach einer äußeren Geschlechtsangleichung nachempfinden.

Wo stehen wir im Jahr 2024, wenn es um die Akzeptanz verschiedener Lebensrealitäten geht?

Wir sind deutlich weiter als noch in den 90er- und 00er-Jahren. Aber wir sind bei Weitem noch nicht da, wo wir sein sollten.

Über die Gesprächspartnerin

  • Georgine Kellermann ist eine deutsche Journalistin. Sie wurde am 21. September 1957 als Georg Kellermann geboren. Im Laufe ihrer Karriere moderierte sie das ARD-Morgenmagazin, berichtete als Korrespondentin aus Washington und Paris und leitete das WDR-Studio in Essen. Seit September 2023 ist sie im Ruhestand.

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