Alle glücklichen Paare haben viel und großartigen Sex? Warum das ein Irrglaube ist, erklärt Autorin Beate Absalon im Gespräch mit unserer Redaktion. Über Leistungsdruck im Bett, das wilde Liebesleben im 19. Jahrhundert und den Moment, als plötzlich alle "kinky" wurden.
Frau Absalon, dem Thema Sex, lustlosem Sex und sexloser Lust widmen Sie sich in Ihrem Buch "Not giving a fuck". Darin schreiben Sie "Der Sex kann einem leidtun" – was meinen Sie damit?
Beate Absalon: Die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft mit Sex umgeht, löst in mir häufig das Gefühl aus, von Sex genervt zu sein. Sex nimmt ständig Raum ein und entscheidet darüber, ob Menschen miteinander befreundet sein können und wie sie zueinander stehen. Gleichzeitig weiß ich aber, dass nicht der Sex an sich mich nervt, sondern die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Dahinter sehe ich das Potenzial von Sex: nämlich den experimentellen Spielraum, ein Ort des Auftankens. Sex ist so viel mehr als penetrativer Geschlechtsverkehr. Insofern tut mir der Zugang der Menschen zu Sex leid und ich möchte für weitere Blickwinkel auf Sex einstehen und sie den Menschen schmackhaft machen.
Ihr Buch ist also kein typischer Ratgeber, um wieder Schwung ins eigene Sexleben zu bekommen?
Richtig. Wer eine klassische Anleitung sucht, in zehn Schritten die Flaute im Bett zu überwinden, wird in meinem Buch nicht fündig. Stattdessen ist mein Buch vielmehr eine Einladung, zu verstehen, wie gesamtgesellschaftliche, politische und kulturelle Zusammenhänge sich auf unseren Sex auswirken. Mir war es wichtig, den Leserinnen und Lesern zu vermitteln, dass sie selbst am Zug sind, wenn sie unzufrieden mit ihrem Sexleben sind. Nur sie selbst können für sich erfinden, was guter Sex ist – das kann ich nicht leisten. Es geht also um den beinahe revolutionären Akt, dass Menschen lernen sollen, ihre sexuellen Vorlieben, ihren Sex oder ihren Nicht-Sex auszuleben.
Woher wissen wir denn, was wir uns beim Sex wünschen? Ist es wirklich die von mir empfundene Lust oder haben wir schlichtweg das verinnerlicht, was uns die Gesellschaft vorgibt?
Ich glaube nicht, dass es ein wirklich authentisches Begehren gibt, weil wir alle von der Gesellschaft, in der wir leben, geknetet und geformt werden. Trotzdem merken wir, ob wir gesellschaftliche Vorgaben abpausen oder eigenen Impulsen folgen. Natürlich können wir uns Inspirationen von außen bedienen, das wichtige Stichwort in diesem Zusammenhang lautet aber Selbstbestimmtheit.
Ich komme nicht umhin, in diesem Zusammenhang etwa an Filme wie "Fifty Shades of Grey" zu denken …
Oh ja! Nach "Fifty Shades of Grey" waren plötzlich alle Menschen kinky und haben ihre vermeintlich ersehnte Form von Sex vorgelebt bekommen und im Anschluss ausgelebt. Hier muss sich aber eine wesentliche Frage gestellt werden: Mache ich das jetzt auch, weil ich mich auf diese Experimente wirklich einlassen will oder weil ich den gesellschaftlichen Druck verspüre, diese Form von Sex zu leben? Das herauszufinden ist nicht einfach. Es erfordert, wachsam zu sein für die eigenen Empfindungen und Impulse: Spüre ich Freude, Lebendigkeit, Horizonterweiterung? Oder fühlt es sich eher nach Pflichterfüllung, Bedrängnis, Druck und Stress an?
Kann man möglicherweise Sex den Druck nehmen, indem man eine Zeit darauf verzichtet?
Ich bin während meiner Buchrecherchen auf zahlreiche Artikel gestoßen, in denen Menschen von ihrer Sex-Auszeit sprechen. In manchen Fällen waren diese Auszeiten geplant, in anderen sind die Personen gewissermaßen in die Pause hineingestolpert. Dennoch sprechen die Betroffenen, entgegen aller Erwartungen, von einer tollen und lustvollen Zeit. Gemäß dieser Erfahrungswerte lässt sich sagen, dass der Raum, der zuvor immer mit Sex besetzt war, plötzlich frei wurde für neue Hobbys, für Selbstfürsorge und für neue Erkenntnisse, wenn beispielsweise deutlich wurde, dass das Leben ohne Dating genauso wundervoll sein kann. Insofern kann eine "Zero Sex"-Strategie durchaus ein Weg sein, wobei aufgepasst werden muss, sie nicht zu einem neuen Dogma werden zu lassen.
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Warum wird dem Thema Sex und dem Druck, guten Sex haben zu müssen, in unserer Gesellschaft ein so hoher Stellenwert zugeschrieben?
An Sex werden große Versprechen und Verheißungen geknüpft. In unserer von Arbeit und Leistung geprägten Gesellschaft wird Sex gewissermaßen als Ausnahmezustand betrachtet, der uns fern ab aller zu erfüllenden Leistungen Glück und Ekstase ermöglichen soll. Wir wünschen uns, uns beim Sex so geben zu können, wie wir sind – auch mit unseren nicht ganz so perfekten und effizienten Seiten. Unsere Leistungsgesellschaft hat uns jedoch so stark geprägt, dass wir auch beim Sex anfangen zu performen, etwas darzustellen und Sex für bestimmte Ziele und Zwecke zu verwerten. Damit verpassen wir, was das Tolle an Sex sein könnte: nämlich, auch mal keinen Sinn ergeben zu müssen und spielen zu dürfen.
Beziehungsarbeit ist mehr als sexuelle Erfüllung
Gemeinhilt gilt oft die Annahme: Wenn eine Beziehung "gut läuft", hat man Sex. Warum ist das so?
Darüber wundere ich mich auch (lacht). Bis heute hält diese Verklebung von romantischer Liebe und Sex noch immer an. Aus kulturhistorischer Sicht könnte man es damit erklären, dass unser Bedürfnis nach Leidenschaft, Ekstase und Rausch in einer auf Rationalität und Produktivität ausgerichteten Gesellschaft kanalisiert werden musste. Das hat etwas mit einer neuen Form der Machtausübung zu tun, in der Menschen dazu motiviert wurden, sich auf gesellschaftliche Gewinnmaximierung und Effizienzsteigerung auszurichten. Das Ekstatische sollte eingedämmt werden, ohne es jedoch zu verbieten. Die Ehe als romantische Beziehung sollte für Ausschweifungen einen sicheren und sinnvollen Hort bieten. Das Interessante daran ist, dass häufig davon ausgegangen wird, die Menschen seien damals in ihrer Sexualität unterdrückt gewesen, während wir heute viel befreiter seien.
Waren die Menschen mit Blick auf ihren Sex denn früher gehemmter als heute?
Dieser weit verbreitete Glaube stimmt nicht ganz. Eheratgeber aus dem 19. Jahrhundert etwa haben die Menschen bewusst dazu aufgefordert, an Lust, Erregung und Intensivierung ihrer Orgasmen zu arbeiten. Denn mit den gesellschaftlichen Umwälzungen veränderte sich die Bedeutung von Sex. Es ging nicht mehr nur um die Fähigkeit sich fortpflanzen zu können, sondern darum, einem Liebesideal zu entsprechen. Für Ehepartner galt, sich innerhalb der Partnerschaft sexuell verwirklichen und ausleben zu sollen. Das steht im Einklang mit einer förmlich zum Spaß verpflichtenden Konsumkultur und der gesellschaftlichen Anforderung, möglichst viel um das eigene Privatleben zu kreisen und stetig an sich selbst zu arbeiten – auch am eigenen Sex. Dabei ist Beziehungsarbeit deutlich komplexer und geht über die Bedeutung sexueller Erfüllung hinaus.
Dennoch spielt Sex in Beziehungen eine immense Rolle.
Wir meinen, dass er eine große Rolle spielen muss. Aber am Ende liegt es doch an uns zu entscheiden, was unsere Beziehung ausmacht und was uns wirklich wichtig ist. Das kann Sex sein, das kann aber auch was ganz anderes sein, was uns zusammenhält. Für einige glückliche Beziehungen spielt Sex keine wichtige Rolle. Sex ist zu einer Art Klebstoff geworden, mit dem manche Menschen einen anderen an sich binden wollen. Das gelingt, weil Sex außerhalb von Paarbeziehungen noch immer gesellschaftlich eher beargwöhnt wird. Und weil Sex Bindungshormone ausschütten kann. Auf diese Weise wird Sex jedoch als eine Art Instrument missbraucht, mit dem ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll. Er wird mit Bedeutung überladen, anstatt ein Ort zu sein, in dem man sich austoben und fallen lassen kann. Indem etwa auch die Kultur dieses Bild weiter aufbauscht, verfestigt sich dieser Gedanke entsprechend in unserem Mindset.
Was meinen Sie konkret?
Gucken wir beispielsweise einen Film, in dem eine liierte Person eine andere Person küsst, wird dieser Kuss als großes Drama dargestellt. Streng genommen wird die empfundene Lust dadurch zensiert und ein Bild gezeichnet, dass Lust sich ausschließlich auf eine Person, den Partner oder die Partnerin, beziehen sollte. Andernfalls wird diese Lust beschämt, tabuisiert und skandalisiert.
Über die Gesprächspartnerin
- Beate Absalon arbeitet als Kulturwissenschaftlerin zu zeitgenössischer Sexualkultur mit einem Fokus auf Konsenspraktiken. Theorie mit Praxis verbindend, bietet sie unter dem Namen "luhmen d’arc" Workshops zu sexuellen Spielformen an, in denen Mehrdeutigkeiten, sozio-politischen Zusammenhängen und nicht-kathartischen Gefühlen (wie Unbeholfenheit, Schüchternheit, Faulheit) Aufmerksamkeit geschenkt wird.
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