Alkohol enthemmt nun einmal – diese Annahme wird nicht nur nach durchzechten Nächten als Entschuldigung für schlechtes Benehmen herangezogen, sondern manchmal sogar vor Gericht als potenziell mildernder Umstand. Der Psychiater Jakob Hein widerspricht: Enthemmung durch Alkoholkonsum sei kein körperlicher Automatismus, sondern kulturell geprägt.
Dem Kollegen bei der Firmenfeier ein bisschen zu deutlich die Meinung gesagt, sich auf einer Party wesentlicher Kleidungsstücke entledigt oder trotz Beziehung fremdgegangen: Schlechtes Benehmen schieben wir gerne mal auf den Alkohol. Sogar im Strafrecht können durch Alkohol mildernde Umstände gelten – denn Hochprozentiges enthemmt, so der allgemeine Glaube.
Nach Ansicht von Jakob Hein ist diese Annahme aber nicht viel mehr als ein gesellschaftlicher Mythos. Der Psychiater und Autor hat im letzten Jahr das vor über 50 Jahren erschienene Buch "Drunken Comportment: A Social Explanation" (deutsch: "Betrunkene Geselligkeit: Eine soziale Erläuterung") wiederentdeckt und ins Deutsche übersetzt. Verkürzt lautet die Kernthese des Buches: Alkohol ist keine Entschuldigung - wie sich Betrunkene verhalten, ist kulturell geprägt.
"Die Enthemmung kommt nicht durch den Alkohol, sie ist nicht unausweichlich."
Jakob Hein, Psychiater
Die Autoren Craig Macandrew und Robert B. Edgerton untersuchten in dem 1969 erschienenen Buch, wie sich Betrunkene in verschiedenen Kulturen in den vergangenen 300 Jahren verhalten haben. Während körperliche Effekte wie Müdigkeit, Gleichgewichts- oder Artikulationsstörungen zuverlässig überall auftraten, zeigten sich beim Verhalten jedoch große Unterschiede.
Auf der abgelegenen japanischen Insel Takayama zum Beispiel werden die Menschen durch Alkohol demnach ruhiger und freundlicher – von Enthemmung bis hin zu Gewaltausbrüchen, wie sie bei uns nicht selten sind, keine Spur. "Das Buch liefert zahlreiche Beispiele von Kulturen, die sich unter Alkohol völlig entgegen unserer scheinbar normalen Konvention verhalten", sagt Hein. "Die Enthemmung kommt also nicht durch den Alkohol, sie ist nicht unausweichlich."
Betrunkenes Benehmen hängt vom Kontext ab
Noch überzeugender findet der Psychiater und Autor die Tatsache, dass es auch bei uns große Unterschiede im betrunkenen Verhalten gibt, je nach Situation. "Wenn man mit Geschäftspartnern eine Flasche Wein leert, dann verhalten sich die wenigsten völlig enthemmt. Auf dem Oktoberfest oder im Fußballstadion hätte die gleiche Alkoholmenge wahrscheinlich zu einem ganz anderen Verhalten geführt."
Wie wir uns im volltrunkenen Zustand benehmen, hängt demnach mehr vom Kontext ab als vom Alkohol selbst. Untermauert werden die Erkenntnisse des Buches aus dem Jahr 1969 auch durch aktuellere Forschungsergebnisse. "Tatsächlich gibt es keine Studie, die die Ergebnisse des Buches widerlegt", sagt Hein.
In neueren Studien mit Placebo-Alkohol, in denen Testpersonen entgegen ihrer Erwartung alkoholfreie Drinks serviert bekamen, hätten sich die Probanden nach einer Weile tatsächlich betrunken verhalten. "Die körperlichen Effekte von Alkohol traten nicht auf. Was sich aber entscheidend änderte, ist, wie sich die Studienteilnehmer benahmen – und zwar so, wie sie annahmen, dass man sich unter Alkoholeinfluss verhält", sagt Hein.
Alkohol im Strafrecht: Schuldunfähigkeit ab drei Promille
Der oder die Einzelne hat demnach auch unter Alkoholeinfluss Entscheidungsgewalt darüber, wie er oder sie sich verhält – vom schwankenden Gang abgesehen. Das entzieht nicht nur Fehltritten auf Partys die Entschuldigungsgrundlage, sondern wirft auch hinsichtlich des deutschen Strafrechts Fragen auf.
Eine verminderte Schuldunfähigkeit nach §21 StGB ist ab einer Blutalkoholkonzentration von 2,0 Promille möglich. Eine Schuldunfähigkeit nach §20 StGB kommt ab einer Blutalkoholkonzentration von 3,0 Promille in Betracht. Bei Tötungsdelikten, aufgrund der höheren Hemmschwelle, erst ab 3,3 Promille.
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Dies sind aber nur Richtwerte, von denen das Gericht im Einzelfall abweichen kann. Die Blutalkoholkonzentration ist ein gewichtiges Beweiszeichen, entscheidend ist aber eine Gesamtwürdigung der Umstände. Unter 2,0 Promille ist man auch nicht automatisch voll schuldfähig: Alle Tatumstände – auch die Alkoholgewöhnung und die Blutalkoholkonzentration des Täters – fließen in die Beurteilung mit ein.
Strafmilderung durch Alkohol: Wissenschaftliche Belege fehlen
Vor Gericht kann es bei schweren Straftaten also durchaus einen Unterschied machen, wenn man zum Tatzeitpunkt sehr betrunken war. Jakob Hein hält das für fragwürdig. Häufig werde Gewalt, vor allem gegen Frauen, mit Alkoholkonsum begründet. "Das ist nicht haltbar", sagt Hein. "Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, warum sich Alkohol strafmildernd auswirken sollte."
Eigentlich sei es sogar umgekehrt: Alkohol erschwere durch seine körperlichen Effekte, wie schlechtere Koordination und Motorik, eine Tat auszuführen. "Unter Alkoholeinfluss muss man sich sozusagen besonders viel Mühe geben, um eine schwere Straftat zu begehen", sagt Hein.
"Man steht schon blöd da, wenn einem klar wird, dass alles, was einem unter Alkoholeinfluss rausrutscht, vorher schon drin gewesen sein muss."
Jakob Hein
Doch warum hält sich der Mythos so hartnäckig, dass Alkohol enthemmt und wir nicht mehr Herr oder Frau unserer selbst sind – wo doch ein Buch schon vor über 50 Jahren das Gegenteil belegte? "Alkohol ist einfach eine sehr befriedigende Erklärung", sagt Hein. Wir Menschen ließen uns einfach nicht gerne in unseren Überzeugungen erschüttern. "Man steht schon blöd da, wenn einem klar wird, dass alles, was einem unter Alkoholeinfluss rausrutscht, vorher schon drin gewesen sein muss. Diesen Prozess musste ich selbst durchmachen."
Zum Abstinenzler ist Hein selbst durch diese Erkenntnis aber nicht geworden. Er habe auch nichts dagegen, wenn sich Menschen betrinken. "Ich glaube, die Gesellschaft braucht solche Auszeiten, dagegen ist auch überhaupt nichts einzuwenden", sagt Hein. "Aber Alkohol als Ticket zu benutzen, um Menschen zu beleidigen oder gar zu verletzen, das ist nicht okay. Dafür gibt es keine wissenschaftliche Grundlage."
Über den Gesprächspartner
- Jakob Hein ist Psychiater, Psychotherapeut und Autor. Zuletzt hat er die Übersetzung "Betrunkenes Betragen – eine ethnologische Weltreise" beim Verlag Galiani-Berlin veröffentlicht.
Redaktioneller Hinweis
- Das Gespräch wurde bereits im letzten Jahr geführt. Das Thema wurde nun aus aktuellem Anlass aktualisiert und erneut veröffentlicht.
Verwendete Quellen
- Telefoninterview mit Jakob Hein
- Bußgeldkatalog 2024: Schuldunfähigkeit bzw. Unzurechnungsfähigkeit bei Alkohol am Steuer
- Bundesgerichtshof.de: Beschluss vom 11. Mai 2021, 2 StR 448/20