Stirbt ein Mensch kurz nach seinem Partner, spricht man vom sogenannten Witwen-Effekt. Doch lässt sich das wissenschaftlich erklären? Kann Trauer wirklich zum Tod führen?

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Ein Fall aus Italien machte unlängst Schlagzeilen: Ein Mann stirbt nur 36 Stunden nach seiner Ehefrau. Er im Alter von 84 Jahren, gesundheitlich belastet und nach einem Sturz ans Bett gefesselt. Sie mit 81 Jahren in einem Pflegeheim, in das sie wegen ihrer Alzheimer-Krankheit hatte umziehen müssen.

Das Paar war 55 Jahre lang verheiratet gewesen. Bereits die räumliche Trennung von seiner großen Liebe Lolita habe Sergio Cresti, so der Name des Mannes, emotional stark belastet, berichtete der Sohn im Gespräch mit der italienischen Zeitung "Il Tirreno". War es nur ein Zufall, dass Sergio so kurz nach seiner Frau starb? Immerhin waren beide hochbetagt und gesundheitlich vorbelastet.

Witwen-Effekt: Wenn Trauer krank macht

Die Geschichte der italienischen Eheleute ist kein Einzelfall. Männer sind dabei häufiger vom sogenannten Witwen-Effekt betroffen. Laut einer Studie aus Dänemark, bei der Daten von rund einer Million Menschen ab 65 Jahren ausgewertet wurden, war das Sterberisiko von Witwern zwischen 65 und 70 Jahren kurz nach dem Tod ihrer Frauen um bis zu 70 Prozent erhöht.

Bei den Frauen stieg das Sterberisiko nur um 27 Prozent. Neben dem Stress nach dem Tod der geliebten Person und der ohnehin kürzeren Lebenserwartung von Männern spielen auch soziale und emotionale Faktoren im Trauerprozess eine Rolle. Oft werden ungesunde Bewältigungsstrategien wie Alkohol- und Nikotinkonsum eingesetzt, die das Krankheits- und Sterblichkeitsrisiko ihrerseits erhöhen. Aber: Auch Trauerstress kann, genau wie Einsamkeit, krank machen.

Dass chronischer Stress, emotional belastende Phasen und soziale Faktoren wie Einsamkeit dem Immunsystem schaden, ist wissenschaftlich belegt. Bei chronischem Stress sind Entzündungsparameter im Blut dauerhaft erhöht, was die Entstehung von schweren Krankheiten begünstigen kann.

Psychoneuroimmunologie – der Mensch als Ganzes

Christian Schubert ist Mediziner, klinischer Psychologe, Psychotherapeut und Forscher. Seit 30 Jahren untersucht er die komplexen Wechselwirkungen zwischen Psyche, Gehirn, Nervensystem und Immunsystem – ein interdisziplinäres Feld, das unter dem Namen Psychoneuroimmunologie, kurz PNI, bekannt ist.

Schubert leitet das Labor für Psychoneuroimmunologie der Medizinischen Universität Innsbruck. Auch die Wirkung von Stress auf Immunfaktoren wird in der PNI untersucht. Stirbt ein geliebter Mensch, löst das bei den Hinterbliebenen Stress aus. Oft beginnt dieser aber bereits vor dem Tod des Partners oder einer nahestehenden Person.

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"Ein langfristiger Caregiver-Prozess, also wenn ein Partner den anderen pflegt oder ihm sehr nahe steht in seinem Krankheitsprozess, kann klar mit erhöhten Entzündungsmarkern verbunden sein. Diese erhöhte Entzündung wiederum bahnt den Weg in Krankheit. Auch das ist bekannt. Langzeitpflege und der damit einhergehende Stress wirken sich also auf die Lebenserwartung aus. Die andauernden Entzündungsprozesse im Körper können so einiges an Schaden anrichten, weswegen diese Personen oft Krankheiten entwickeln, die im Zusammenhang mit Entzündungen stehen – Krebs-, Autoimmun- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zum Beispiel", erklärt Schubert.

Kann Trauer tödlich sein?

Ist der Witwen-Effekt also ein schleichender Prozess? Oder kann der Stress durch den Verlust eines geliebten Menschen auch so stark sein, dass der oder die Hinterbliebene schon kurz darauf stirbt?

"Beides ist möglich", sagt Christian Schubert. "Es steht außer Frage, dass ein psychisch schwer belastendes Ereignis, wie der Tod des Ehepartners nach vielen Jahrzehnten Ehe, zum plötzlichen Tod der hinterbliebenen Person führen kann." Der normale Stressreaktionsprozess führe zu einem akuten Entzündungsanstieg, der dann rückreguliert werde. Dies könne innerhalb weniger Stunden passieren.

"Die Lebensform hat sich aneinander angeglichen – Routinen, Bindung, Bedeutung, Sinn. Stirbt nun der Ehepartner, ist es menschlich gesehen nachvollziehbar, dass der andere mitgeht."

Mediziner Christian Schubert über den Fall der Eheleute in Italien, die kurz hintereinander starben

Dass ältere Menschen zufällig kurz nacheinander sterben, sei eher unwahrscheinlich. "Das wäre eine allzu mechanistische Sicht der Dinge. Wir sind als Menschen eingebunden in ein biopsychosoziales Netz." Man müsse hier einiges mehr bedenken: "Das Ehepaar war sehr lange miteinander verbunden. Die Lebensform hat sich aneinander angeglichen – Routinen, Bindung, Bedeutung, Sinn. Stirbt nun der Ehepartner, ist es menschlich gesehen nachvollziehbar, dass der andere mitgeht. Wir wehren uns so gegen das Sterben. Manchmal ist es aber der angemessenere Weg, den ein Mensch gehen kann. In diesem Fall liegt der Sinn im Mitgehen."

Er gibt aber auch zu bedenken: "Vieles hat auch mit der Persönlichkeit des Hinterbliebenen zu tun. Traut er sich zu alleine weiterzuleben? Gibt es ein soziales Netz, das ihn auffängt? Gibt es andere Sinnstrukturen, die das Leben noch lebenswert machen?"

Trauerstress und seine Folgen – eine Frage der Gene?

Auch Christian Schultze-Florey von der medizinischen Hochschule Hannover hat zusammen mit einem internationalen Team untersucht, was akuter Trauerstress auslöst. An der Studie nahmen 64 Personen teil, die zu dem Zeitpunkt trauerten. Die Forscher fanden heraus, dass der Botenstoff Interleukin-6, auch IL-6, bei der Hälfte der Studienteilnehmer deutlich erhöht war. IL-6 kann bestimmte Abwehrzellen aktivieren, ist aber auch Ausdruck von Entzündungsprozessen und krankhaften Veränderungen, die tödlich enden können.

Warum nur die Hälfte der Trauernden – unabhängig von der persönlichen Wahrnehmung der eigenen Trauer – erhöhte IL-6-Werte aufwiesen, haben die Forschenden ebenfalls untersucht. Dafür schauten sie sich die Gene der Studienteilnehmer genauer an, insbesondere das IL6-Gen und eine bestimmte Variante davon. Personen mit der Genvariante wiesen niedrigere IL-6-Werte im Blut auf. Die Variante führt offenbar dazu, dass das Gen trotz des Trauerstresses nicht stärker abgelesen wird und deshalb auch nicht vermehrt IL-6 ausgeschüttet wird.

Ist uns also in die Wiege gelegt, wie anfällig wir für die gesundheitlichen Folgen von Trauerstress sind? Sich in dieser Frage nur auf einen Entzündungsmarker zu stützen, genügt Christian Schubert nicht, da auch andere Entzündungsmarker zu Krankheit und Tod führen können. Den Rahmen zu erweitern und ganzheitlich zu denken, betrachtet Schubert bei der Behandlung von Menschen ohnehin als notwendig. Man müsse den Menschen als Ganzes wahrnehmen – Körper, Psyche und soziale Beziehungen als zusammenhängendes System, das sich gegenseitig beeinflusst.

Kann man Pflege- und Trauerstress vorbeugen?

Wäre es also sinnvoll, wenn Trauernde oder noch Pflegende präventiv aktiv werden und ihre Entzündungsmarker untersuchen lassen oder entspannungsfördernde und entzündungshemmende Maßnahmen ergreifen, um aus dem chronischen Stress herauszukommen? "Das kann man machen, aber es würde mir zu kurz greifen. Ich hielte die Sinnfrage für das Wichtigste – und die Akzeptanz des Todes", so Schubert.

Er bezweifelt, dass sich Sinn und Bedeutung einfach so implementieren lassen: "Wir wissen auch, dass der Kirchgang die Entzündungsparameter senkt. Jetzt schnell noch in die Kirche gehen wird höchstwahrscheinlich nicht die Heilung bringen. Es geht um Sozialisation – das ist nicht einfach ein Medikament, das ich mir nach Belieben einwerfe. Auch hier ist Bedeutung der Schlüssel. Bedeutung hat mit Beziehung zu tun."

Wie wichtig gute, glücklich machende Beziehungen für die Gesundheit sind, beschreibt Schubert auch in seinem letzten Buch "Gesundheitselixier: Beziehung". Eine aktuelle Langzeitstudie der Harvard University belegt ebenfalls, wie wichtig gesunde Sozialkontakte für die Gesundheit sind. Fazit der Studie: Gute Gene und ein gesunder Lebensstil sind vorteilhaft, doch zwischenmenschliche Beziehungen scheinen die Gesundheit noch stärker zu beeinflussen.

Einsame Witwer, ungesunde Trauer

Aber was, wenn man einsam ist? Eine Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung belegt, dass nicht nur ältere Menschen zunehmend unter Einsamkeit leiden, sondern auch immer mehr Menschen im jungen und mittleren Alter.

Dass vor allem einsame Witwer ein höheres Suizidrisiko haben, verwundert Christian Schubert nicht. Männer würden eher dazu neigen, mehr zu rationalisieren und seltener in die emotionalen Bereiche ihres Lebens einzutreten. Sich für eine Psychotherapie zu öffnen, würde ebenfalls vielen Männern schwerfallen.

Auch hier sieht Schubert Handlungsbedarf, der über Ratschläge wie Psychotherapie oder Entspannungsübungen hinausgeht: "Im Endeffekt geht es für meine Begriffe auch um eine gesellschaftliche Veränderung. Es geht darum, sich zu fragen: Warum sind Männer eigentlich so? Warum können sie sich nicht mehr für weichere, emotionalere, kommunikativere Beziehungsaspekte öffnen?"

Er wünscht sich daher, dass die westliche Kultur etwas weiblicher wird. Nicht im Sinne von Quoten in der Arbeitswelt, sondern einer Kultur, in der soziale und kommunikative Aspekte stärker geschätzt und gelebt werden.

Trauerarbeit und Akzeptanz

Über die Trauer zu sprechen, sich emotional zu öffnen und in eine Beziehung zu gehen, sei es mit anderen Trauernden in Selbsthilfegruppen oder einem Psychotherapeuten, kann im Trauerprozess sehr hilfreich sein. Der Trauerprozess ist aber nicht nur für die Gesundheit von Trauernden essenziell – unverarbeitete Trauer kann sich auch auf nachfolgende Generationen auswirken.

Von transgenerationaler Weitergabe sprechen Wissenschaftler, wenn Trauma und seelischer Schmerz weitergegeben werden. Aus seiner Forschung, aber auch aus verschiedenen Fällen von transgenerationaler Weitergabe aus seiner psychotherapeutischen Praxis in Innsbruck kennt auch Christian Schubert das Phänomen.

Trauer und Trauma können nicht nur durch Verhaltensmuster in Familien weitergegeben werden, sondern auch durch Vererbung an die nächste Generation. Epigenetische Veränderungen sind Modifikationen im Genom, die durch äußere Umweltfaktoren beeinflusst werden. Nicht verarbeitete Trauer kann solche epigenetische Folgen haben und so vererbt werden.

Trotzdem müsse man das Selbstbestimmungsrecht von Trauernden achten, findet Christian Schubert. Möchte ein Mensch im hohen Alter, der die Liebe seines Lebens verloren hat, gehen, habe das mit Akzeptanz und Respekt zu tun. Der Sohn von Sergio Cresti, der seine große Liebe nach 55 Ehejahren verlor und 36 Stunden später starb, habe zu seinem Vater gesagt, dass er ihr folgen dürfe, wenn er das wolle. Er wollte.

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Dr. Christian Schubert ist Arzt, Psychologe und ärztlicher Psychotherapeut, Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie am Department für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie der Medizinischen Universität Innsbruck. Er ist Autor von zahlreichen Fachartikeln und Büchern, die das Zusammenspiel von Psyche, Nervensystem und Immunsystem wissenschaftlich beleuchten. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt ist die Entwicklung eines Untersuchungsdesigns zur Erforschung psychosomatischer Komplexität – die "Integrative Einzelfallstudie".

Verwendete Quellen