Schaut man sich um in der Gesellschaft, könnte man zu dem Schluss kommen: Nett zu sein bringt uns nicht weiter im Leben. Aber sind freundliche Menschen wirklich schwach und stehen nicht für ihre Bedürfnisse ein? Laut Nora Blum handelt es sich hierbei um "ein großes Missverständnis". Die Psychologin plädiert daher für radikale Freundlichkeit und vertritt die These, Freundlichkeit sei streng genommen sogar "extrem egoistisch".
Im Interview erklärt die Psychologin und Autorin des Buches "Radikale Freundlichkeit" zudem, wie man radikal freundlich streitet und erklärt, wie man auf unfreundliches Verhalten anderer Menschen idealerweise reagieren sollte.
Wir nutzen Redewendungen wie "Nett ist die kleine Schwester von scheiße" oder "Den Netten beißen die Hunde" – es erscheint, als wäre es nicht wirklich erstrebenswert, nett zu sein …
Nora Blum: Nett sein scheint hierzulande gewissermaßen out geworden zu sein. Meiner Meinung nach ist es ein großes Missverständnis, dass Freundlichkeit häufig mit Schwäche oder fehlender Durchsetzungskraft gleichgesetzt wird. Oft heißt es, nette oder freundliche Menschen würden nicht für ihre eigenen Interessen eintreten oder keine Konflikte eingehen. Das sehe ich anders. Wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse nicht äußern oder Konflikten aus dem Weg gehen, sind wir weder freundlich zu uns selbst, weil wir nicht für uns einstehen, noch zu anderen Menschen, weil wir unser Gegenüber bezüglich unserer Bedürfnisse im Dunkeln tappen lassen. Vielmehr ist es sehr freundlich, konkret zu äußern, wie man fühlt.
Trotzdem wird Freundlichkeit häufig mit Schwäche gleichgesetzt. Warum?
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. 1982 wurde der Begriff "Ellenbogengesellschaft" sogar zum Wort des Jahres gekürt und Rücksichtslosigkeit wurde mit wirtschaftlichem Erfolg gleichgesetzt. Insofern hat sich der Gedanke etabliert, dass freundlich sein eher negativ assoziiert wird.
Diesem Missverständnis widmen Sie sich in Ihrem Buch "Radikale Freundlichkeit". Was genau ist eigentlich Freundlichkeit?
Freundlichkeit beinhaltet eine maximal empathische Grundhaltung mir selbst und anderen gegenüber, die sich auf drei Ebenen zeigt. Auf kognitiver Ebene nimmt man jeden Menschen gleich wahr und respektiert ihn gleichermaßen. Auf emotionaler Ebene versucht man, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und empfindet Empathie. Gemäß dieser Werte wird im Rahmen der Verhaltensebene gehandelt.
Kann ich nur freundlich zu anderen sein, wenn ich auch freundlich zu mir bin?
Freundlichkeit zu sich selbst ist ein Teil der Freundlichkeit zu anderen Menschen. Denn stehe ich mir selbst empathisch gegenüber, fällt es mir in der Folge auch leichter, dieses Gefühl auf andere zu übertragen. Selbstliebe ist aber keine zwingende Voraussetzung. Es gibt auch Menschen, die hart mit sich selbst ins Gericht gehen, während sie anderen Personen gegenüber sehr aufopfernd und freundlich sind. Insofern lautet mein Appell an diese Menschen, sich zu erlauben, freundlich zu sich selbst zu sein.
Wie sollte man auf Unfreundlichkeit reagieren?
Ich betrachte es als riesige Chance für uns selbst, auf Unfreundlichkeit freundlich und gelassen zu reagieren. Denn wir machen uns damit unabhängiger. Das schaffen wir, indem wir dem verärgerten Impuls, zurückzuschlagen, nicht nachgeben. An dieser Stelle empfehle ich drei tiefe Atemzüge, ehe wir zum wichtigsten Punkt kommen: Das Verhalten des anderen nicht persönlich nehmen. Denn unfreundliches Verhalten eines anderen Menschen liegt meistens nicht bei uns, sondern bei der anderen Person selbst – umso gelassener können wir in so einer Situation reagieren.
Was, wenn wir dennoch in eine Situation geraten, in der uns Unfreundlichkeit begegnet? Vor allem in den Kommentarspalten in den sozialen Medien kann es vereinzelt ziemlich unnett ablaufen …
Auch auf Social Media versuche ich, Mitgefühl für das Gegenüber aufzubringen. Und ganz ehrlich: Für Menschen, die vermeintlich den ganzen Tag damit verbringen, Hass im Netz zu verbreiten, kann ich nur Mitgefühl empfinden. Dieser Gedanke hilft mir, Hatespeech im Internet keine Macht zu geben. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir alles mit uns machen lassen sollten. Denn Freundlichkeit kann auch bedeuten, sehr klare Grenzen zu setzen.
"Während das Mädchen lieb und artig sein muss, darf der Junge sich durchsetzen und unfreundlich sein."
Sind Frauen anders freundlich als Männer?
Studien zeigen, dass Frauen durchschnittlich in Freundlichkeitstests etwas höhere Werte erzielen als Männer. Diese Unterschiede haben aber sehr viel mit der Erziehung zu tun. Auch hierzulande herrschen mitunter noch stereotypische Erziehungsmethoden vor. Bedeutet: Während das Mädchen lieb und artig sein muss, darf der Junge sich durchsetzen und unfreundlich sein. Genetisch betrachtet haben wir alle die Fähigkeit, freundlich zu sein. Nichtsdestotrotz haben die Normen und Prägungen, mit denen wir aufwachsen, einen großen Einfluss auf unser Ausleben von Freundlichkeit.
Die Prägung spielt also eine Rolle. Kann man trotzdem lernen, freundlich zu sein?
Auf jeden Fall. Jeder Mensch kann auch im Erwachsenenalter lernen, freundlich zu sein. Wir sind soziale Wesen und es liegt in unserer Natur, freundlich zueinander zu sein. Außerdem werden wir für Freundlichkeit belohnt: Unser Körper schüttet einen Cocktail aus Glückshormonen aus – insofern lohnt sich nett sein. Genau diesen Effekt möchte ich mit meinem Buch erzielen. Es geht mir nicht darum, den moralischen Zeigefinger zu heben und Menschen dazu aufzufordern, nett zu sein. Vielmehr geht es darum, an die persönlichen Vorteile zu erinnern, die Freundlichkeit mitbringt. Streng genommen ist es sogar extrem egoistisch, freundlich zu sein. Denn wer nett zu anderen ist, tut sich selbst etwas Gutes. Insofern bin ich persönlich für meine eigene Lebenszufriedenheit freundlich.
Sie sprachen bereits vom Setzen eigener Grenzen: Kann man freundlich Nein sagen?
Das muss man sogar! Viele Menschen leiden unter dem sogenannten People Pleasing. Sie befürchten, zurückgewiesen zu werden oder eine andere Person zu verprellen, wenn sie für die eigenen Grenzen einstehen. Dabei führt genau dieses Verhalten häufig zu zwischenmenschlichen Problemen, weil People Pleaser ihr Gegenüber im Dunkeln tappen lassen bezüglich der eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Dabei möchte man doch wissen, was im Gegenüber vorgeht. Insofern sollten wir uns klarmachen, dass das Kommunizieren der eigenen Grenzen ein Akt der Freundlichkeit ist. Auch das bewusste Hineingehen in einen Konflikt sollte als Akt der Freundlichkeit verstanden werden, denn nur so zeigen wir Menschen uns komplett authentisch mit all unseren Bedürfnissen.
Setzen wir keine Grenzen und lassen alles mit uns machen, ist – sowohl im beruflichen als auch privaten Umfeld – irgendwann der Punkt erreicht, an dem man all das nicht mehr aushält. Eine solche Situation läuft dann in der Regel nicht besonders freundlich ab. Umso mehr empfehle ich, frühzeitig Grenzen zu setzen und auch Konflikte zu führen – nur so bleibt man ehrlich zu sich selbst und anderen Menschen.
In Ihrem Buch betiteln Sie das Smartphone als "Endgegner" – was hat es damit auf sich?
Natürlich bieten Smartphones auch Raum für Freundlichkeit, weil sie Austausch über Grenzen und Länder hinweg ermöglichen. Sie bieten aber auch Raum für Unfreundlichkeit, weil sie uns einen großen Teil unserer Aufmerksamkeit rauben. Studien zeigen, dass der ständige Blick auf das Smartphone einen Effekt bei unserem Gegenüber auslöst. Auch Social Media spielt hierbei eine Rolle: Kurzvideos auf Instagram oder TikTok trainieren unser Gehirn auf eine so kurze Aufmerksamkeitsspanne, dass es uns in der Folge viel schwerer fällt, achtsam und über einen längeren Zeitraum mit anderen Menschen im Gespräch zu bleiben.
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Vor allem politische Themen sorgen häufig für hitzige und emotionale Debatten im Freundes- oder Familienkreis. Ist es möglich, sich radikal freundlich zu streiten?
Meiner Meinung nach ist es nicht nur möglich, sondern auch nötig. In der Gesellschaft, in der wir leben, ist es notwendig, in den Konflikt zu gehen und schwierige Gespräche zu führen. Diese Gespräche sollten aus einer Haltung der Empathie und auf Augenhöhe stattfinden. Es geht nicht darum, sich nur empört zu zeigen und unfreundlich zu werden – so werden die Gräben zwischen den Menschen nur noch tiefer.
Umso mehr brauchen wir die Fähigkeit, herausfordernde Gespräche und politische Diskussionen zu führen. Freundlich und bestimmt die eigene Meinung zu vertreten und dabei mit Empathie darauf zu achten, wie das Gegenüber darauf reagiert, ist genau die Herangehensweise, die wir aktuell in unserer Gesellschaft brauchen.
Über die Gesprächspartnerin
- Nora Blum studierte Psychologie in York und Cambridge. Als Gründerin der Online-Therapieplattform Selfapy wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Sie forscht zum Thema Freundlichkeit und Stressbewältigung und ist eine gefragte Speakerin.