Eine Frage, mehrere Antworten: Manchmal hilft es, das eigene Problem aus mehreren Perspektiven zu betrachten. In unserem neuen Format "... und jetzt?" beantworten Menschen mit ganz unterschiedlichen Expertisen die intimen Fragen unserer Leserinnen und Leser. Diesmal geht es darum, sich als Single über 30 einsam zu fühlen.

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Es gibt mehr als schwarz und weiß, richtig oder falsch. Eigentlich wissen wir das. Doch wir haben uns daran gewöhnt, laute, einfache Antworten zu akzeptieren oder nur die Meinung zu hören, die unser Algorithmus vorgibt. Doch die Welt ist komplexer. Und das, was für jede und jeden von uns richtig sein kann, ist es auch.

Unsere Leserinnen und Leser haben uns für dieses Format intime Fragen geschickt, die sie beschäftigen. Wir haben diese Fragen mit unterschiedlichen Menschen besprochen und unterschiedliche Antworten erhalten, die sich mal ergänzen, mal widersprechen.

Wir glauben: Sobald man andere Meinungen wahrnimmt und die Welt zumindest einen Moment durch andere Augen betrachtet, passiert etwas Wunderbares: Ob man nun der gleichen oder komplett anderer Meinung ist, man kommt dem ganz persönlichen "Richtig" und "Falsch" näher – und damit am Ende auch der individuellen Lösung seines Problems.

Ein und dieselbe Frage – verschiedene Antworten

In unserer neuen Ausgabe hat sich eine Leserin Antworten auf die folgende Frage gewünscht:

"Ich bin Mitte 30, habe keine Kinder und seit langem weder Freunde noch einen Partner. Jeder in meinem Freundeskreis ist entweder verlobt oder hat bereits eine Familie. Kann man als introvertierter Außenseiter noch Freunde oder sogar einen Partner finden? Und wenn ja, wie? Umgeben von Menschen kann man der gefühlt einsamste Mensch der Welt sein."

Hier lesen Sie die Antworten, die uns Expertinnen und Experten auf die Frage der Leserin gegeben haben:

Paula Lambert: Erkennen, dass es vielen so geht - und dann etwas ändern

"Menschen wie dich habe ich sehr oft im Podcast. Ich glaube, das ist gerade wirklich ein gesellschaftliches Thema. Freundschaften zu finden ist heute problematisch, weil wir ganz viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen und weniger Sozialkontakte haben. Gleichzeitig muss man Freundschaft auch wollen und zulassen. Freundschaft fällt nicht vom Himmel, sondern Freundschaft entsteht durch Treffen, durch Kennenlernen und so weiter.

Paula Lambert
Paula Lambert © Lydia Gorges

Und wenn die alten Freunde keine Zeit mehr haben, nicht mehr zum eigenen Lebensstil passen oder nicht mehr mit einem befreundet sein wollen, dann sucht man sich neue. Das Problem hierbei ist aber, dass man das auch wollen muss. Und bei ganz vielen Menschen, gerade wenn sie ein bisschen introvertiert sind, entsteht eine Kontaktschüchternheit, sodass sie dann gar nicht mehr darauf vertrauen, dass sie jemand als Mensch mag oder mögen könnte.

Und darum ist hier das gefragt, was für Introvertierte besonders schwer ist: Rausgehen – in Lokalitäten, Vereine, Clubs, zu Hobbys, wo man mit vielen Menschen in Kontakt kommt. Denn manche Menschen brauchen die Gelegenheiten, sich erst richtig oder besser kennenzulernen, bevor eine Freundschaft entsteht. Je häufiger man jemanden sieht, desto näher lernt man natürlich auch jemanden kennen. Und Freunde findet man übrigens in jedem Alter. Man muss nur den Blick und das Herz öffnen."

Zur Person

  • Die Journalistin und Podcasterin Paula Lambert ist Expertin für Liebes- und Sexfragen.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben und gibt in ihrem Podcast "Paula Lieben Lernen" sowie auf Instagram (@therealpaulalambert) Tipps zu Liebe, Sex und Partnerschaft.

Tanja Hoyer: Üben, wieder mit anderen in Kontakt zu kommen

"Ach Gott, da wird mir gleich das Herz schwer. Es ist tatsächlich so. Es ist aber auch so, dass man unter vielen Menschen einsam sein kann. Oder in einer Beziehung, weil sich Menschen innerlich zurückziehen, nicht ehrlich waren oder etwas leben, was sie eigentlich nicht leben wollen.

Tanja Hoyer
Tanja Hoyer © privat

Das heißt, auch Menschen, die eng miteinander sind, fühlen sich manchmal einsam. Und ich glaube daran, dass man jederzeit, zu jedem Zeitpunkt, Freunde und Partnerschaften finden kann, wenn man das will.

Heute kann es einfacher sein, sich erst mal über das Internet mit jemandem zu verabreden. Es gibt aber auch Single-Gruppen, Kochkurse, Wanderkurse für Singles, wo man nicht so viel quatschen muss, man sich aber mal beschnuppern kann.

Deswegen würde ich der Person raten, guck mal, worauf du Lust hast. Einfach mal wieder Menschen kennenlernen und üben, wie es überhaupt geht, miteinander in Kontakt zu kommen, zu sprechen, sich kennenzulernen. Ich glaube, die Hoffnung stirbt zuletzt."

Zur Person

  • Tanja Hoyer führt eine eigene Praxis im Bereich Sexual- und Paarberatung, Körperarbeit und sexueller Aufklärarbeit.
  • Sie leitet Workshops, gibt Vorträge und Interviews zum Thema Sexarbeit, der sie selbst zehn Jahre lang nachgegangen ist.

Torsten Geiling: Dort suchen, wo man Gleichgesinnte vermutet

"Ich verstehe, wenn man nicht zu denen gehört, die ein familiäres Leben führen oder eine Karriere verfolgen, und sich deshalb einsam fühlt. Aber dann stellt sich die Frage: Wo treffe ich Menschen, die ähnlich ticken wie ich?

Torsten Geiling
Torsten Geiling © Torsten Geiling

Zum Beispiel in Vereinen, bei Hobbys oder im Ehrenamt, wenn man sich irgendwo engagiert. Ich glaube schon, dass es auch für introvertierte Menschen Möglichkeiten gibt, Menschen kennenzulernen, die auf einer Wellenlänge sind und vielleicht ähnlich denken wie ich.

Und nach der ersten Familienzeit, mit Kindern und Haus, fangen viele mit Anfang bis Mitte 40 wieder an, sich umzuschauen. Und es gibt dann die eine oder andere Trennung, was die Partnersuche in ihrem Alter erleichtert. Ich glaube nicht, dass das Leben mit Mitte 30 vorbei ist. Es gibt noch genug Möglichkeiten, Leute kennenzulernen. Man muss sich nur überlegen, wo man steht, welche Interessen man hat und wo man Leute treffen kann. Dann funktioniert es auch."

Zur Person

  • Torsten Geiling ist Kommunikationswissenschaftler und systemischer Coach. Er berät und begleitet Menschen, die sich trennen wollen, vor, während und nach einer Trennung.
  • Er schreibt Ratgeberbücher wie "Ich will mich trennen". Sein neues Buch trägt den Titel "Du wusstest doch, dass ich Kinder habe!"

Sharon Brehm: Die Komfortzone verlassen - vielleicht auch mit Hilfe

"Ich kann dieses Gefühl gut nachvollziehen. Ich weiß von einigen Klientinnen und Klienten, wie schmerzhaft diese Phase Mitte 30 sein kann, in der sich Freundeskreise verändern. Ich würde die Hoffnung nicht aufgeben. Die Zeitspanne von 20 bis 35 Jahren ist genauso lang wie die von 35 bis 50 – das bedeutet, ein großer Teil des Lebens liegt noch vor dieser Person, und es gibt viele Gelegenheiten, jemanden kennenzulernen.

Sharon Brehm
Dr. Sharon Brehm © Susanne Schramke

Wie kann ich jemanden kennenlernen? Wenn sie schreibt, dass sie introvertiert ist, könnte das bedeuten, dass sie eher zurückhaltend ist und mehr Zeit braucht, um sich auf neue Menschen einzulassen. Klassisches Online-Dating könnte sie möglicherweise überfordern oder als zu schnell empfunden werden – oft entsteht dabei der Druck, nach wenigen Dates eine Entscheidung treffen zu müssen.

Früher haben sich Menschen über die Arbeit, den Freundeskreis, Hobbys oder soziales Engagement kennengelernt. Ich glaube, es braucht manchmal etwas Mut, um aus der eigenen Komfortzone herauszugehen. Man darf sich auch therapeutische Hilfe holen. Man muss nicht alles alleine bewältigen. Es ist wichtig, liebevoll mit sich selbst umzugehen."

Zur Person

  • Dr. Sharon Brehm ist systemische Paartherapeutin und bietet Sitzungen in München sowie virtuell an.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben, darunter den "Spiegel"-Bestseller "wiederherzgestellt".

Michael Kühler: Selbstliebe entwickeln

"Das letzte Statement ist leider sehr, sehr wahr. In der Philosophie gibt es eine Unterscheidung, die hier spannend ist, die sogenannte Selbstliebe: Sie meint, dass man sich als Person mit all seinen Stärken und Schwächen lieben kann, sich selbst akzeptiert und respektiert. Es heißt nicht, dass man eine egoistische Eigenliebe entwickelt.

Prof. Dr. Michael Kühler
Prof. Dr. Michael Kühler © Fachhochschule Dortmund/Florian Freimuth

Selbstliebe gilt als Voraussetzung und Bestandteil erfolgreicher Liebesbeziehungen. Mit ihr fällt es vielleicht ein kleines bisschen leichter, positiv auf andere zuzugehen. Auch wenn das für Introvertierte nochmal schwieriger ist. Das kann ich auch aus eigener Erfahrung bestätigen.

Man kann sich fragen, was will ich denn mit meinem Leben? Was kann ich davon beeinflussen? Und wie kann ich mein Leben so gestalten, dass ich diese Selbstliebe an den Tag legen kann? Ob das positive Auswirkungen mit Blick auf Freunde und mögliche romantische Liebesbeziehungen hat, steht erst einmal völlig offen. Aber diese positive Haltung einem Selbst gegenüber macht das eigene Leben mindestens erträglicher."

Zur Person

  • Prof. Dr. Michael Kühler hat die Professur für "Angewandte Ethik in der gesellschaftlichen Verantwortung" an der Fachhochschule Dortmund.
  • Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Philosophie der Liebe.

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