(dpa, afp, cf, ah) Die beiden US-Amerikaner Mario Capecchi und Oliver Smithies sowie der Brite Sir Martin Evans erhalten den Nobelpreis 2007 für Medizin.
Capecchi arbeitet an der University of Utah, Smithies an der University of North Carolina und Evans wirkt an der Cardiff University.
Sie bekommen die skandinavische Auszeichnung für die von ihnen gefundene Methode, Mäusegene gezielt auszuschalten. Durch dieses so genannte Gene-Targeting entstehen Mäuse, die in der Fachwelt als Knock-Out-Mäuse bekannt sind.
Besonders für die medizinische Forschung stellte die Einführung dieser Technik einen Meilenstein dar. Denn mit ihr lassen sich Modelltiere für menschliche Krankheiten erzeugt, zum Beispiel Bluthochdruck oder Diabetes. Die Methode wird zur Entwicklung neuer Therapien genutzt, aber auch aus der Grundlagenforschung ist sie nicht mehr wegzudenken.
Wissenschaftler lernen damit, welche Erbanlagen die Entwicklung der Organismen steuern, wie sich Zellen miteinander unterhalten, wie das Nervensystem wächst oder wie Krebs entsteht. "Sie haben eine echte Revolution in der medizinischen Forschung begründet", betont die Präsidentin der Nobelversammlung, Erna Möller. Inzwischen gibt es mehr als 10.000 solcher Knock-Out-Mausstämme.
Und so können Sie sich das Vorgehen bildlich vorstellen: denken Sie einfach an ein Uhrwerk, aus dem Sie ein Zahnrad entfernen. Ist ein besonders wichtiges Teil betroffen, kommt die ganze Uhr zum Stillstand. Bei einem anderen fällt vielleicht nur der Sekundenzeiger aus, während der Ausfall eines dritten Rades das Gerät ungenau laufen lässt. Wer das Uhrwerk nicht kennt, lernt mit diesem Verfahren, welches Zahnrad welche Funktion übernimmt.
Ähnlich verhält es sich mit den vielen tausend unbekannten Genen der Maus. Wird die Erbanlage zur Steuerung des Zahnwuchses "k.o. geschlagen" ("ausgeknockt"), fehlen die Zähne. Andere Knock-Out-Mäuse haben verkürzte Beine. In diesem Fall muss das ausgeschaltete Gen also eine Wirkung auf den Beinwuchs haben.
Mario Capecchi und Oliver Smithies fanden heraus, dass sich im Prinzip beliebige Gene ausschalten lassen. Dazu wird eine defekte Version des stumm zu schaltenden Gens in eine Zelle gegeben. In einigen Fällen ersetzen natürliche Mechanismen der Zelle daraufhin das intakte, natürliche Gen durch die künstlich eingeführte, defekte Version ("homologe Rekombination"). Solche Zellen werden nach einem Test isoliert.
Erst mit den von Martin Evans geschaffenen embryonalen Stammzellen der Maus ließen sich aber die gewünschten Lebewesen schaffen. Die mit homologer Rekombination veränderten Stammzellen werden in einen erst wenige Zellen großen, sehr frühen Embryo gespritzt und tragen im Laufe der Entwicklung zum erwachsenen Organismus bei - auch zur Bildung der Geschlechtsorgane. Eizellen und Spermien der geschlechtsreifen Mäuse tragen in günstigen Fällen das ausgeschaltete Gen.
Manche Nachkommen besitzen daraufhin also keine intakte Version des Gens. Diese Mäuse sehen sich die Wissenschaftler dann ganz genau an - in der Hoffnung irgendeine Abnormalität zu finden. Ist etwas entdeckt, versuchen sie auf die Funktion des ausgeschalteten Gens rückzuschließen.
1989 erschienen die ersten wissenschaftlichen Berichte über so veränderte Mäuse. Inzwischen sind die Methoden viel feiner geworden. So lassen sich auch stärkere und schwächere Versionen von Genen in die Tiere schleusen. Zudem können Gene zum gewünschten Zeitpunkt deaktiviert werden, auch in bestimmten Zellen und Geweben. Das ist sowohl im Embryo als auch im erwachsenen Tier möglich.
Die Herstellung einer Knock-Out-Maus dauert viele Monate, inzwischen erledigen einige Dienstleister diese Aufgabe. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist die Beschäftigung mit Knock-Out-Mäusen nun schon ein rapide wachsendes Forschungsgebiet. Fast täglich kommen neue Tiere hinzu.
Die Zahl der Veröffentlichungen lässt sich kaum noch überschauen. In "naher Zukunft", so heißt es beim Karolinska- Institut, werden alle Mausgene einmal ausgeschaltet sein. Dabei kommt es - erwartungsgemäß - auch zu schwersten Fehlbildungen, deformierten Skeletten, versagenden Organen oder fehlenden Muskeln.
Anhand der Erkenntnisse von Smithies, Capecchi und Evans untersuchen Forscher heute rund um den Globus die unterschiedlichsten Gene.
"Das Gen-Targeting hat alle Bereiche der Biomedizin durchdrungen", erklärte das Karolinska-Institut in Schweden. "Seine Bedeutung für das Verständnis der Genfunktionen und sein Gewinn für die Menschheit werden über viele Jahre wachsen."
"Wir verstehen Mechanismen hinter vielen Krankheiten viel besser. Dies ist ohne Zweifel einer der am meisten verdienten Preise", sagte die Präsidentin der Nobelversammlung, Erna Möller. Nils Brose, Direktor des Max-Planck-Instituts für Experimentelle Medizin in Göttingen ist sicher: "Die Technik hat die Forschung revolutioniert."
"Knock-Out-Mäuse sind das Mittel der Wahl, wenn man die Funktion von Genen verstehen will", erklärt Martin Hafner vom Helmholtz- Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Weil sich die Knock- Out-Mäuse in wirklich allen Bereichen der Molekularmedizin durchgesetzt hätten, sei die Vergabe des Nobelpreises an Capecchi, Evans und Smithies gerechtfertigt. "Das ist ein großer Fortschritt. Zuvor ließ sich die Funktion von Genen nur in der Zellkultur untersuchen. Dort verhalten sich Gene aber anders als im Körper", sagt Hafner.
Schon im vergangenen Jahr ging es beim Medizin-Nobelpreis um ein ähnliches Thema. Damals wurden die beiden Amerikaner Andrew Fire und Craig Mello für die Entdeckung der so genannten RNA-Interferenz ausgezeichnet. Das ist ein natürlicher Mechanismus in Zellen, mit dem die Zelle selbst Gene ausschaltet. Damit ist es ihr zum Beispiel möglich, krank machende Erbinformationen zu blockieren oder Viren abzuwehren.
Unerwartet kam die Entscheidung der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften in Stockholm am Montag nicht. Schon im Jahr 2001 waren Smithies, Capecchi und Evans mit dem Lasker-Foundation-Preis bedacht worden, der als Vorbote des Nobelpreises gilt. Damals ging es um ihre Arbeit an Krankheitsmodellen. Die Experten entwickelten eine Methode, bei der mithilfe tierischer Zellen menschliche Krankheiten simuliert werden können.
"Alle drei wurden schon früher nominiert. Normalerweise geben wir solche Dinge nicht bekannt. Aber in diesem Fall ist das kein Geheimnis", sagte Möller. "Dieser Nobelpreis war längst fällig", urteilt auch Michael Baader vom Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin.
Capecchi wurde in Italien geboren und musste sich im Zweiten Weltkrieg als Straßenkind durchschlagen, weil seine Mutter ins Konzentrationslager Dachau gebracht worden war. Später wanderte die Mutter mit ihm in die USA aus, wo er seine Karriere an der Eliteuniversität Havard begann. Der Anruf des Nobelkomitees aus Stockholm riss Capecchi in der Nacht zum Montag kurz nach 3 Uhr Ortszeit "aus tiefem Schlaf". Für ihn ist der Preis jedoch eher Nebensache: "Die eigentliche Belohnung ist die Arbeit selbst und das, was wir mit ihr erreichen." Ansonsten hält er sich mit Sport fit: "Ich jogge und trainiere jeden Tag."
Sportflieger Smithies hat nach eigenen Angaben mit der Auszeichnung gerechnet. Trotz seiner 82 Jahre arbeitet er noch täglich im Labor. "Ich habe meine Arbeit mehr als 50 Jahre genossen. Jeden Tag wieder." Das sei eigentlich Erfüllung genug. Sein britischer Kollege Evans ist einer der Architekten der Stammzellforschung. 2004 schlug Elizabeth II. den Forscher zum Ritter.
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