Seit 2017 ist der Hashtag #metoo zu einem der Schlagwörter im Kampf gegen Machtmissbrauch geworden. Sieben Jahre später blickt die Journalistin Juliane Löffler in ihrem Buch "Missbrauch, Macht und Medien" auf die Veränderungen, die #metoo in Deutschland angestoßen hat. Im Interview spricht sie darüber, dass sexualisierte Gewalt nichts mit sexueller Befriedigung zu tun hat und wie sich auch das Bild der Opfer in der Öffentlichkeit wandelt.

Ein Interview

Frau Löffler, seit 2017 ist der Hashtag #metoo über die sozialen Medien zu einem der mächtigsten Schlagwörter im Kampf gegen Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern geworden. Ihr Buch "Missbrauch, Macht und Medien" trägt den Untertitel "Was #metoo in Deutschland verändert hat". Was hat sich denn hierzulande verändert?

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Juliane Löffler: Die Stärke von MeToo ist gleichzeitig eine Schwäche, denn damit ist eine sehr große Bandbreite von Missständen gemeint. Unter MeToo wird gefasst, was unter Alltagssexismus diskutiert wird und reicht bis zu Vergewaltigungen. Es ist eine internationale Bewegung, bei dem von Gewalt betroffene Menschen, vor allem Frauen, unter einem Schlagwort ihre Erfahrungen teilen. Insofern kann nicht das eine Gesetz benennen, was daraus hervorging. Aber es lassen sich rechtliche, politische oder auch gesellschaftliche Veränderungen beobachten. Denn durch MeToo ist es geläufiger geworden, über diese Themen zu sprechen. Wir haben heute eine sehr viel bessere Datenlage, die uns erkennen lässt, wie weit verbreitet sexualisierte Gewalt und Übergriffe sind. Wir wissen, dass vor allem Frauen davon betroffen und Männer vorrangig die Täter sind. Betroffene können erkennen, dass sie nicht alleine sind, und so Mut fassen, über ihre Erinnerungen zu sprechen.

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Zudem hat sich Presseberichterstattung seit 2017 professionalisiert, wie man zuletzt 2023 im Rahmen der Rammstein-Berichterstattung sehen konnte. Inzwischen sind auch etablierte Medien bereit, große investigative Teams zusammenzustellen, um zu Vorwürfen zu recherchieren. Das zeigt, dass das ganze Thema viel ernster genommen wird. Da wurde verstanden: Es geht um Macht und Gewalt. Das sind Themen, die für die Öffentlichkeit relevant sind und Menschen interessieren.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sexualisierte Gewalt nichts mit Sex oder Liebe zu tun hat, sondern ausschließlich mit Machtmissbrauch

Richtig. Bei sexualisierter Gewalt geht es nicht zuvorderst um sexuelle Befriedigung, sondern Sex ist das Mittel, um eine Person zu verletzten und sich über sie zu ermächtigen. Es geht darum, Macht auszuüben.

Wenn es um sexualisierte Gewalt geht, geht es häufig um das Narrativ der Frau, die doch selbst schuld sei an dem, was ihr widerfahren ist. Wie können wir bei all dem Bewusstsein, das wir in den letzten Jahren über sexualisierte Gewalt erlangt haben, aus dieser Narrativ-Spirale herauskommen?

Dieses Selbst-schuld-Narrativ knüpft an zurückliegende Traditionen an. Die Frau soll an einem Übergriff schuld sein, zum Beispiel, weil sie sich nicht gut genug gewehrt hat. Ein jüngeres Beispiel: Das deutsche Sexualstrafrecht wurde 2016 so reformiert, dass eine Vergewaltigung auch dann als solche anerkannt wird, wenn eine Frau Nein gesagt hat und den erkennbaren Willen ausdrückt, keinen Sex zu wollen. Dass Nein auch wirklich Nein heißt, ist also noch gar nicht lange gesetzlich verankert. Inzwischen wird – jenseits des Strafrechts – immer mehr verstanden, dass es auch in einvernehmlichen sexuellen Beziehungen zu Machtmissbrauch kommen kann.

"Kann eine Praktikantin, die Sex mit ihrem Chef hat, der über ihre berufliche Karriere entscheidet, einfach die Beziehung mit ihm beenden, ohne berufliche Nachteile befürchten zu müssen?"

Juliane Löffler

Nach den Recherchen zu Julian Reichelt, der die Vorwürfe gegen ihn bestreitet, wurde etwa ausgiebig über Abhängigkeitsverhältnisse diskutiert. In einem Machtungleichgewicht kann es finanzielle, körperliche oder emotionale Abhängigkeiten geben. Kann zum Beispiel eine Praktikantin, die Sex mit ihrem Chef hat, der über ihre berufliche Karriere entscheidet, einfach die Beziehung mit ihm beenden, ohne berufliche Nachteile befürchten zu müssen? Wenn darüber gesprochen wird, wie Macht und Verantwortung verteilt sind, gibt es die Chance, die Schuld nicht ständig bei den Betroffenen zu suchen.

Opfer sexualisierter Gewalt empfinden häufig Scham. In diesem Zusammenhang würde ich gerne den Blick nach Frankreich auf den Vergewaltigungsprozess von Avignon lenken: Denn das Opfer, Gisèle Pélicot, sagt "Die Scham muss die Seite wechseln". Sie geht bewusst in die Öffentlichkeit und schafft mit dieser Haltung ein Novum – welchen Effekt könnten wir gesamtgesellschaftlich daraus mitnehmen?

Im Fall von Gisèle Pélicot sprechen wir von einer Frau, die über 200-mal über einen Zeitraum von zehn Jahren von über 70 Männern vergewaltigt worden sein soll. Ihre Aussage "Die Scham muss die Seite wechseln" ist ein Ausdruck von Selbstbewusstsein. Besonders ermutigend finde ich in diesem Zusammenhang zu sehen, dass vor dem Gerichtssaal Frauen stehen, die ihr applaudieren. Das zeigt, dass ein Vergewaltigungsopfer als Vorbild gefeiert werden kann. Und das ist ein Effekt, der entstehen konnte, weil wir die eben beschriebenen Debatten seit MeToo sehr intensiv führen.

Porträt von Juliane Löffler. © Yilmaz/JL

Das macht Hoffnung, dass das Stigma der Vergewaltigung nachlässt. Es wird nicht gefragt, wie es sein konnte, dass sie den Missbrauch über all die Jahre nicht bemerkt hat, jedenfalls habe ich so etwas nirgendwo gelesen. Sondern es wird gefragt, was einen Mann dazu antreibt, seine Ehefrau zu betäuben und massenhaft vergewaltigen zu lassen. Und genau das ist die einzig richtige Frage, die in diesem Zusammenhang gestellt werden muss.

Lassen Sie uns die Rolle der berichtenden Medien in diesem Zusammenhang einordnen: Sprechen wir hier von einer neuen Art der Berichterstattung?

Neu ist die Berichterstattung nicht, weil es in der Vergangenheit immer wieder aufsehenerregende Fälle über mutmaßlichen Missbrauch, Schuld und Unschuld gegeben hat, wie etwa in den 80er-Jahren die Vorwürfe gegen Roman Polanski. Im aktuellen Fall Gisèle Pélicot sieht man aber sehr deutlich, wie Medien sie beschreiben. Ich lese zum Beispiel immer wieder, wie würdevoll sie ist. Ihr wird zugestanden, Opfer und Vorbild zugleich zu sein. Veränderungen erkennt man auch an der Sprache, die wir im Medienbetrieb nutzen, um über Gewalt zu sprechen: "Sexismus" oder "Femizid" sind geläufige Worte in der Medienlandschaft geworden. Wir wissen, dass ein Femizid kein Eifersuchtsdrama oder eine Beziehungstat ist, sondern geschlechtsspezifische Gewalt. Die fachliche Expertise in den Medien wächst.

Fragen wie "Welche Kleidung trug das Opfer zum Zeitpunkt des Übergriffs?" erschwert es Opfern häufig, einen Übergriff zu melden beziehungsweise einen Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Was gibt es hier gesamtgesellschaftlich zu tun, um ein entsprechendes Bewusstsein zu erlangen?

Es braucht Aufklärung. Ein Beispiel ist der 2020 erschienene ProSieben-Beitrag "Männerwelten" von Joko und Klaas. Die Moderatorin Sophie Passmann führte durch eine Ausstellung, die zeigte, welche Kleidung Opfer zum Zeitpunkt eines sexuellen Übergriffs getragen haben. Die Botschaft war: Keine Kleidung rechtfertigt das, was Täter Opfern antun. Die Erkenntnis war nicht neu, aber sie war im medialen Mainstream angekommen und ich würde behaupten, heute ist sie weitestgehend Konsens. Verstehen und Aufklären sind also die ersten Schritte.

Und die weiteren?

Darauf folgt, dass Opfer und mutmaßlich Betroffene selbstbewusster werden und entscheiden, wo und wie sie ihre Geschichten erzählen, wie wir es beispielsweise im Fall Pélicot beobachten können. Sie hat sich dafür eingesetzt, dass der Prozess für Presse und Öffentlichkeit geöffnet wird. Ich habe auch bei meinen Recherchen den Eindruck, dass die Scham bei den mutmaßlich Betroffenen etwas sinkt, auch wenn sie nach wie vor eine Rolle spielt. Quellen kommen zu mir und wollen erzählen, was ihnen passiert ist, weil sie ein Bewusstsein dafür erlangt haben, dass das Handeln der Beschuldigen falsch war. Zugleich müssen sie aber damit rechnen, Hass und Anfeindungen zu erleben, wenn sie ihren Fall öffentlich machen. Denn es gibt einen Backlash, also eine Gegenbewegung.

"Ganz grundsätzlich müssen Frauen, die öffentlich Vorwürfe erheben, damit rechnen, beschämt und angegriffen zu werden, vor allem in sozialen Netzwerken."

Juliane Löffler

Worum genau geht es bei einem Backlash?

Metoo kann man als progressive Bewegung bezeichnen, bei der Gleichstellung gefordert und sexualisierte Gewalt genau wie Machtasymmetrien in der Gesellschaften bekämpft werden. Im Backlash zeigt sich genau das Gegenteil, die Stimmen zu MeToo sollen zum Schweigen gebracht werden. Ganz grundsätzlich müssen Frauen, die öffentlich Vorwürfe erheben, damit rechnen, beschämt und angegriffen zu werden, vor allem in sozialen Netzwerken.

Sprechen wir bei einem Backlash also von einer neuen Art von Gewalt gegen Frauen?

Ja, aber ich finde es aktuell schwer einzuschätzen, in welche Richtung sich das entwickelt. Unterhalb von Gewalt und Drohungen gibt es beispielsweise die sogenannte Litigation-PR, die strategische Rechtskommunikation. Dabei handelt es sich um eine Art Verteidigungsoffensive von Medienanwälten, die die Beschuldigten vertreten und gezielt verhindern wollen, dass Frauen sich äußern, indem etwa presserechtliche Informationsschreiben verbreitet werden. Als die ersten Vorwürfe gegen Rammstein öffentlich wurden, haben etwa Till Lindemanns Medienanwälte früh verkündet, nicht nur gegen die Presse, sondern gegen einzelne Frauen, die Vorwürfe erheben, rechtliche Schritte einzuleiten. Es ist klar, dass so etwas einschüchternd auf Quellen wirken kann. Bei solchen Recherchen können wir Journalistinnen und Journalisten unsere Quellen zumindest vor dem Hass in der Öffentlichkeit etwas besser schützen, indem wir sie anonym zu Wort kommen lassen.

Bleiben wir einmal bei der Situation, dass sich ein Opfer sexualisierter Gewalt in einem vertraulichen Gespräch an Sie wendet. Wie finden Sie als Medienschaffende die Balance zwischen dem, was Ihnen anvertraut wird und dem, was der Öffentlichkeit später zugänglich gemacht wird?

Das ist nicht meine individuelle Entscheidung, sondern es gibt klare Regeln für diese Art der Berichterstattung. In der Medienwelt nennen wir das Verdachtsberichterstattung. Wir können etwa nur über Dinge berichten, über die uns ausreichend Indizien und Belegtatsachen vorliegen. Das bedeutet, dass wir natürlich überprüfen müssen, inwiefern sich nachvollziehen lässt, was die Personen erzählen. Eine andere Regel ist: Wir geben Personen, gegen die Vorwürfe erhoben werden, immer die Möglichkeit zur Stellungnahme. Wenn sie bereit sind, sich zu äußern, wird das in den Text entsprechend aufgenommen. Ich kann meistens nur einen Bruchteil der Informationen veröffentlichen, die ich kenne. Und ich erhalte mehr Hinweise, als ich nachgehen kann, denn diese Recherchen sind sehr zeitaufwendig. Ich erkenne aber an den vielen Menschen, die sich an mich wenden, immer wieder, wie weit verbreitet diese Probleme sind. Das zieht sich durch alle Branchen, alle Gesellschaftsschichten und durch alle politischen Lager.

MeToo hat einiges verändert. Sehen wir mit Blick auf die Masse an Geschichten dennoch bislang nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs?

Ja, wir sprechen definitiv von der Spitze des Eisbergs. Das zeigen auch die Zahlen. Das BKA hat 2023 über 250.000 Fälle von häuslicher Gewalt gemeldet, davon waren 70 Prozent der Opfer weiblich. Natürlich können wir nicht über all diese Fälle einzeln berichten, das ist auch nicht unsere Aufgabe als Presse. Es gibt Recherchen und Reportagen, die exemplarisch für viele andere mutmaßlich Betroffene stehen. Aber es werden mittlerweile so viele Fälle öffentlich, dass ich beobachte, wie Menschen mit "Ach, der auch noch" reagieren. Es kann frustrierend sein zu sehen, dass das wie ein Fass ohne Boden zu sein scheint – und auch, dass das Thema politisch noch immer nicht die Priorität hat, die es verdient. Aber die MeToo-Bewegung gibt es erst seit sieben Jahren, wir stehen noch am Anfang. Für diesen vergleichsweise kurzen Zeitraum kann man schon einige Veränderungen beobachten. Das kann auch Hoffnung machen.

Über die Gesprächspartnerin

  • Juliane Löffler ist eine deutsche Journalistin. Die 38-Jährige veröffentlicht seit Jahren zu Themen im Bereich sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch. Vor allem ihre Recherchen zu Ex-"Bild"-Chef Julian Reichelt erhielten große Aufmerksamkeit. 2021 wurde Juliane Löffler dafür zusammen mit dem Team von Ippen Investigativ vom "Medium Magazin" als "Journalistin des Jahres" ausgezeichnet. Löffler hat für ihre Arbeiten zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, u.a. das "Reporters in the Fields"-Stipendium der Robert Bosch Stiftung, den Bert-Donnepp-Preis und den STERN-Preis 2022.
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