(jw) - Sie irritieren, wenn man sich konzentrieren muss. Sie kommen aus dem Nichts und denken gar nicht daran, wieder zu verschwinden. Kurz gesagt: Ohrwürmer können ziemliche Nervensägen sein und zu allem Übel handelt es sich dabei meist um Melodien, die man nicht mal ausstehen kann.

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Es gibt leider keine Hoffnung, dass diese "Klang-Parasiten" jemals ausgerottet werden. Allerdings machen sich einige Wissenschaftler daran, sie zu erforschen. Nach einem Bericht des amerikanischen Fernsehsenders CNN ist ein Forschungsteam der University of London nun auf der Spur des Mysteriums Ohrwurm. Sie glauben, den Code geknackt zu haben, warum sich manche Songs im Gehirn festsetzen und sich in der Endlosschleife abspielen. Die Ergebnisse ihrer Studie werden nach Aussage der Wissenschaftler nicht nur das Verständnis der Musik-Verarbeitung im Gehirn erweitern, sondern könnten auch dazu genutzt werden, den perfekten Popsong zu schreiben.

Manchmal kann man Ohrwürmer direkt auf bestimmte Gedankenprozesse beziehen, zum Beispiel wenn der Inhalt eines Songtextes zur Situation passt und man sich deshalb an ihn erinnert. Meistens tauchen Ohrwürmer aber zufällig und ohne ersichtlichen Grund auf. Gerade diese Tatsache, dass diese Phänomene unbewusst entstehen und wir keinerlei Kontrolle darüber haben, macht Ohrwürmer so interessant für die Forscher.

Die Forschungs-Resultate sollen auch aufklären, unter welchen Bedingungen Ohrwürmer häufiger auftreten. Manche Persönlichkeitstypen scheinen empfänglicher für derartige akustische Halluzinationen zu sein. Zudem scheint es äußere Risiko-Umstände zu geben, die das Auftreten von Ohrwürmern wahrscheinlicher machen.

Schon in einer früheren Studie beschreibt der Wirtschaftspsychologe James Kellaris von der Universität Cincinnati, dass die Intensivität und Dauer von der Tagesform abhängig ist. Stress oder Müdigkeit bieten eine breite Angriffsfläche für einen Ohrwurmbefall.

Der Studie des Forscherteams aus London zufolge haben über 90 Prozent der Menschen regelmäßig Ohrwurm-Erfahrungen. Und jeder Mensch hat eine eigene Top-Ten der lästigsten Ohr-Parasiten. Gefährlich sind Ohrwürmer in den meisten Fällen nicht. Sie werden oft als lästige Begleiterscheinungen empfunden, die den Betroffenen manchmal ziemlich foltern können.

Nach Meinung des renommierten Neurologen und Schriftstellers Oliver Sacks ist die beinahe allgegenwärtige Anwesenheit von Musik in der modernen Gesellschaft für die Entstehung von Ohrwürmern verantwortlich. Musik in Kaufhäusern, Klingeltöne auf der Straße und Melodien in Hotline-Warteschleifen – wir werden fast pausenlos mit Musik beschallt. Möglicherweise reagiert das Gehirn auf inzwischen ungewohnte, musikfreie Momente.

Durch die Analyse und Charakterisierung typischer Ohrwurm-Lieder konnten die Forscher allerdings eine Formel erstellen, mit der sich die Ohrwurmfähigkeit von Musiktiteln bestimmen lässt. Bisher fanden sie heraus, dass ein Ohrwurm durch die Balance von bestimmten Intervall-Abständen und rhythmischen Strukturen entsteht. Mit der Formel können die Wissenschaftler mit 75 prozentiger Wahrscheinlichkeit voraussagen, ob ein Song im Gedächtnis bleibt oder nicht.

"Mit der Untersuchung von bekannten Ohrwürmen konnten wir tatsächlich die DNA des perfekten Popsongs aufdecken", so der an der Studie beteiligte Wissenschaftler Daniel Müllensiefen.

Das dürfte auch das Interesse der Werbebranche wecken. Für den Trend "akustische Markenbildung" ist sie ständig auf der Suche nach einprägsamen Melodien, die schließlich mit bestimmten Produkten und Unternehmen verbunden werden.

Jetzt könnte man vermuten, dass die Wissenschaftler die "Popsong-Formel" nur entwickelt haben, um sie für viel Geld an die Musikindustrie zu verkaufen. Die Forschungsgruppe bestreitet das. Ihnen gehe es ausschließlich um die Gedächtnisforschung – und Ohrwürmer seien dafür ein brauchbarer und spannender mentaler Mechanismus.

Ohrwürmer werden aber auch weiterhin ein großes Mysterium der Psychologie bleiben. Und wenn er wieder zuschlägt, bleibt nur eins: Eine ganz andere Platte auflegen und notfalls lautstark gegen den "Klang-Parasiten" ansingen.

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