Für 466.000 Schüler hat diese Woche wieder die Schule begonnen, in wenigen Tagen geht in den übrigen Bundesländern der Unterricht los. Mit dem neuen Schuljahr treten einige Änderungen in Kraft, doch es fehle nach wie vor an Reformen, sagt Dr. Andreas Salcher. Wie diese Änderungen aussehen sollten, erklärt der Bildungsexperte im Gespräch mit unserem Portal.
Herr Salcher, wie stehen Sie zur neuen Regelung, dass Volksschüler bis zur dritten Klasse nicht mehr sitzen bleiben können. Bislang betraf das ja nur 0,6 Prozent. Macht es dennoch Sinn, oder wäre es vernünftig das auf alle Schulstufen auszuweiten?
Dr. Andreas Salcher: Das macht durchaus Sinn. Fast alle Experten sind gegen das Durchfallen. Denn wegen einem oder zwei Fächern die Klasse wiederholen zu müssen, ist einerseits sehr teuer und andererseits demotivierend. Ich bin dafür, das Sitzenbleiben abzuschaffen. Gleichzeitig allerdings darauf zu achten, ob die Schüler überhaupt in der für sie richtigen Schule sind. Beispielsweise HTL-Schüler, die nicht technisch begabt sind, sollten die Möglichkeit haben, an eine andere Schule zu wechseln. Warum müssen gleichaltrige Kinder immer dieselben Standards erreichen? Die Antwort darauf sind Mehrstufenklassen.
Wie soll das Prinzip der Mehrstufenklasse aussehen?
Die Idee der Mehrstufenklasse ist, dass ein Kind bereits in der Volkschule gemäß seines Könnens von mehreren Lehrern unterrichtet wird. So kann es sein, dass ein Kind mathematisch sehr begabt ist und bereits in einem höheren Level unterrichtet werden kann, während dasselbe Kind aufgrund verschiedener Umstände sprachlich noch hinten nach ist und somit ein ganz anderes Unterrichtslevel braucht. Das heißt, man stülpt nicht fertige Lehrpläne über einen ganzen Jahrgang, sondern konzipiert einen individuellen Lernpfad für jedes Kind.
Wie sieht es bzgl. der "Notenfreiheit" aus: sind verbale Beurteilungen wirklich besser? Oder haben Noten generell ihre Gültigkeit verloren?
Das ist mehr Schall als Rauch. Dieser Wegfall der Beurteilungen wird ja bereits an zwei Dritteln der Volkschulen so gehandhabt. Außerdem ist es nicht entscheidend, ob der Fortschritt eines Schülers in einer Ziffernnote beurteilt wird oder verbal. Entscheidend ist das Verhältnis des Lehrers zu den Schülern. Wenn dieser es schafft, die Lernfreude anzuregen und sich die Kinder dadurch auf die Schule freuen, ist viel gewonnen. Wichtiger sind gemeinsame Gespräche zwischen Eltern, Lehrern und Kindern. Letztere müssen ein Feedback bekommen, denn Lernfreude und positive Bestärkung sind wichtig. Ein Kind findet dadurch selbst heraus, was es kann.
Sind die Reformen ein ausreichender Anfang?
Nein. Ausgehend vom Reformpaket von Ende 2015 wurden gerade einmal 5 Prozent realisiert. Wesentliche Änderungen hat es nicht gegeben.
Was sind in Ihren Augen die nach wie vor dringendsten, ausstehenden Änderungen?
Zwei Punkte: Mehr Autonomie und Selbstbestimmung für Schulen und die Einführung von Ganztagsschulen. Dazu gehört die Auflösung der 50-Minuten-Schulstunde. Sie ist der Todfeind der individuellen Förderung. Diese Taktung, 50 Minuten Unterricht gefolgt von 10 Minuten Pause, die entspricht überhaupt nicht der Art und Weise wie Kinder lernen. Dieses Modell kommt noch aus dem 19. Jahrhundert. Man muss den Schulen die Freiheit geben, ihre Einheiten individuell anzupassen. Das müsste man mit einer echten Ganztagsschule kombinieren.
Was meinen Sie mit "echter" Ganztagsschule?
Eine Schule, die von 9 bis 16 Uhr dauert und in dieser Zeit alles abdeckt – Unterricht, gemeinsames Essen, individuelle Lernphasen und ausreichend Erholung und Bewegung. Schüler sollen nach Hause gehen und Freizeit haben, genauso wie Lehrer. Es ergibt keinen Sinn, dass beide nach Unterrichtsende ihre Unterlagen herumschleppen, Schüler gemeinsam mit ihren Eltern Hausübungen machen müssen, nur weil in der Schule nicht ausreichend Zeit ist, die Dinge zu besprechen. Es muss auch einen Grund haben, warum die teuersten internationalen Schulen in Wien ganztägige Schulen sind.
Warum gibt es dennoch so einen großen Widerstand gegen die Ganztagsschule?
Das hat einerseits ideologische Gründe, wonach Kinder am besten bei den Eltern zu Hause sein sollten. Und natürlich, weil es nur wenige Lehrer und Eltern gibt, die ein funktionierendes Ganztagsmodell selbst kennen lernen konnten. Aber dieses System darf nicht nur Kindern vermögender Eltern zur Verfügung stehen, sondern muss vor allem Kinder bildungsferner Schichten neue Möglichkeiten bieten.
Hat das Bildungs- und Schulsystem eine Chance, sind wir zukunftsfähig?
Eine digitale Reform wird für unser Bildungssystem unerlässlich sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Lehrer in 5 bis 10 Jahren noch immer mit dem Rücken zur Klasse steht und mit der Kreide auf einer Tafel schreibt – nur um das Geschriebene wieder abzuwischen und in einer anderen Klasse erneut schreiben zu müssen. Es gibt keine anderen Institutionen wie unsere Schulen, die technisch soweit zurück sind. Was die technologische Ausrüstung betrifft, sind wir also gar nicht zukunftsfähig. Das beginnt damit, dass Lehrer keine einheitlichen Mailadressen haben. Unsere Schulen sind auch nicht W-LAN tauglich – da sind die asiatischen und skandinavischen Länder weit vor uns. Dabei gibt es bereits großartige Lern-Apps. Das heißt übrigens nicht, dass Lehrer durch Apps ersetzt werden. Sie werden künftig vielmehr zu Lernbegleitern. Man muss unsere Schulen endlich ins 21. Jahrhundert holen.
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