Invasive Arten haben einen schlechten Ruf: Sie seien fremd und gefährlich und zerstören Europas Umwelt. Doch in letzter Zeit äußern sich kritische Stimmen. Was steckt dahinter?
Wenige Themen in der Wissenschaft sind so aufgeladen wie dieses: invasive Arten. In wissenschaftlichen Aufsätzen ist davon die Rede, dass Schäden solcher fremden Tier- oder Pflanzenarten immer mehr verleugnet werden. Einige Ökologinnen und Journalisten würden Fakten missinterpretieren oder die Einflüsse invasiver Arten herunterspielen. Aber von vorne.
Was sind invasiven Arten?
Vermutlich sind Sie schon öfter invasiven Arten begegnet. Dazu gehören fremde und schädliche Arten. Vielleicht ist Ihnen mal ein nordamerikanischer Waschbär über den Weg gehuscht, sie haben einen Asiatischen Marienkäfer von ihrem Arm geschnippt oder ein fleischfressender Strudelwurm aus Australien schlängelte sich durch ihren Garten.
Doch invasive Arten sind mehr als nur harmlose Tiere: Sie verdrängen heimische Arten oder übertragen, wie die Tigermücke, Krankheiten wie Dengue-Fieber, die tödlich enden können. Sie sind laut einem Bericht des Weltbiodiversitätsrats maßgeblich am Aussterben von über 60 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten beteiligt und führen jedes Jahr zu wirtschaftlichen Schäden von über 423 Milliarden US-Dollar. Kurzum: Invasive Arten sind ein riesiges Problem.
Eine neue Sicht
Vor ein paar Jahren brachte Fred Pearce als einer der Ersten eine andere Sicht ein. 2015 beschrieb der englische Autor in seinem Buch "The New Wild" fremde Tier- und Pflanzenarten, die zunächst als invasiv galten, sich aber als harmlos herausstellten. Denn, das schreibt auch das Bundesamt für Naturschutz: Nur eine von 1.000 eingeschleppten und eingeführten Arten bereitet wirklich Probleme. Pearce' Ansicht: Die fremden Tiere und Pflanzen seien "Vagabunden" oder "Abenteurer", die für eine neue Wildnis stehen. Die wenigsten von ihnen verursachen Schaden. Sie können uns stattdessen sogar nutzen.
Fred Pearce' Arbeitsweise wurde von Forschenden kritisiert. Der Autor sei etwa "wiederholt unfähig", wissenschaftliche Literatur korrekt zu interpretieren oder überhaupt zu kennen. In anderen wissenschaftlichen Aufsätzen heißt es, Pearce und andere würden Fakten leugnen, Tatsachen herunterspielen und die Invasionsbiologie als "Pseudowissenschaft" darstellen.
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Ich wollte mir die Kritik genauer anschauen und habe für einen Film für arte und für verschiedene Artikel mit sieben Expertinnen und Experten zu dem Thema gesprochen. Und ja, Pearce' Sichtweise ist wirklich sehr positiv und provokant. Es soll aber gar nicht weiter um ihn gehen. Denn die Experten haben mir auch erzählt, dass fremde Arten ziemlich schnell als invasiv, also gefährlich, bezeichnet werden und dass wir sehr darum kämpfen müssen, den objektiven Blick zu wahren.
So gibt es fremde Arten, deren positive Aspekte überwiegen könnten – Pazifische Austern zum Beispiel. Diese sind schwerer für einige Vögel zu knacken, bieten aber heimischen Miesmuscheln ein Versteck. Außerdem wachsen die Riffe der Austern, sobald der Meeresspiegel ansteigt. Somit wirken sie wie ein Wellenbrecher und schützen unsere Küsten vor den zunehmenden Folgen der Klimakrise.
Es ist auch logisch, dass bei steigenden Temperaturen viele Tiere und Pflanzen aus wärmeren Gebieten bessere Überlebenschancen haben. Außerdem waren auch Pflanzen wie die Sonnenblumen, Mais oder Kartoffeln irgendwann mal "fremde" Arten, die heute ein wichtiger Bestandteil unserer Landwirtschaft sind.
Für einen ausgewogenen Blick
Die Debatte von Pearce, aber auch die Reaktionen darauf haben viel angestoßen: Bisher gibt es einen Leitfaden der International Union for the Conservation of Nature and Natural Resources, nach dem etwa Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Auswirkungen einer neuen Art erfassen können. Dieser konzentriert sich sehr auf die negativen Effekte.
Etabliert sich also eine fremde Pflanze in einem neuen Land, wird geschaut, ob sie nur ein bisschen oder sehr schädlich ist. Erst ein neuer Leitfaden, der 2022 erstellt wurde, schließt auch die positiven Effekte mit ein. Vielleicht wird er die Sicht auf invasive Arten ändern, wenn er sich mehr etabliert.
Sollten wir also in der Zwischenzeit die Vorteile einer Tigermücke hervorheben, die das Dengue- oder Zika-Virus übertragen kann? Nein, manche Arten haben negative Auswirkungen auf die Umwelt und wir müssen uns sowie andere Tiere und Pflanzen vor ihnen schützen. Vielleicht brauchen wir auch mehr Angst vor den fremden Arten, um das Thema auch wirklich ernst zu nehmen. Eine zu negative Sicht könnte aber auch das Vertrauen in diese Wissenschaft schmälern und uns dazu bringen, gewisse Arten zu bekämpfen, während andere eher im Fokus unserer Aufmerksamkeit stehen sollten.
So oder so zeigt die Debatte, was sich ändern muss: Wir müssen das Thema wichtiger als je zuvor nehmen. Denn die Zahl der Arten, die in neue Gebiete einziehen, wird laut einer Studie von 2005 bis 2050 um 36 Prozent steigen, wenn wir so weitermachen wie bisher. Das, was wir vor unserer Haustür sehen, wird sich maßgeblich verändern. Wir sollten bei jeder fremden Art ohne ideologische Brille schauen, ob sie unserer Umwelt nützt oder schadet. Wir müssen uns fragen, was unser Gedanke von Umweltschutz ist: Wollen wir eine Umwelt, in der möglichst viele heimische Arten leben? Oder eine, in der möglichst viele Arten leben, egal ob fremd oder heimisch?
Und vor allem müssen wir das tun, was verschiedene Forschende zum letzten Bericht des Weltbiodiversitätsrats gefordert haben: Wir müssen uns anschauen, wie wir quer über den Globus fliegen, Tiere und Pflanzen hin zu anderen Kontinenten verschiffen und wie wir fremden Arten überhaupt die Chance geben, in anderen Gegenden Tiere oder Pflanzen zu verdrängen.
Wir müssen uns aber auch der Zerstörung durch den Menschen widmen – wie wir Wälder roden, für weltweit steigende Temperaturen sorgen oder Böden verpesten. Hat etwa eine invasive Quallenart im Schwarzen Meer in den 1980er- und 1990er-Jahren wirklich alle Fische vernichtet? Oder waren die Bestände, wie in dieser Studie benannt, zuvor schon überfischt und die Qualle hat so eine Nische gefunden und den Vorgang beschleunigt? Die Frage der Schuld lässt sich selten nur einer invasiven Art zuweisen. Sie liegt vor allem bei uns Menschen.
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Verwendete Quellen
- pubmed.ncbi.nlm.nih.gov: The Rise of Invasive Species Denialism
- redpath-staff.mcgill.ca: The exponential growth of invasive species denialism
- haus-des-meeres.at: Fleischfressende Strudelwürmer breiten sich in Österreich aus!
- ipbes.net: Media Release: IPBES Invasive Alien Species Assessment
- oekom.de: Die neuen Wilden: Wie es mit fremden Tieren und Pflanzen gelingt, die Natur zu retten
- neobiota.bfn.de: Ökologische Grundlagen
- core.ac.uk: Nature’s nature and the place of non-native species
- arte.tv: Sind invasive Arten besser als ihr Ruf?
- youtube.com: Sind invasive Arten besser als ihr Ruf? | 42 - Die Antwort auf fast alles | ARTE
- geo.de: Sind fremde Arten besser als ihr Ruf? Sechs verblüffende Beispiele
- iucn.org: Global Action Ivasive Alien Species
- journals.plos.org: The EICAT+ framework enables classification of positive impacts of alien taxa on native biodiversity
- media.sciencemediacenter.de: Bericht des Weltbiodiversitätsrats zu invasiven gebietsfremden Arten
- open.metu.edu.tr: Can overfishing be responsible for the successful establishment of Mnemiopsis leidyi in the Black Sea?
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