Wenn Prominente sterben, erscheinen meist Nachrufe. Wenn der letzte Gletscher eines Landes verschwindet, wird höchstens eine Meldung veröffentlicht, vielleicht auch ein etwas längerer Bericht im Wissenschaftsteil eines Magazins. Mehr Aufmerksamkeit für einen Gletscher? Fehlanzeige! Dabei geht der Verlust des Humboldt-Gletschers in der Bergkette Sierra Nevada de Mérida in Venezuela uns alle an. Ein Nachruf erscheint mir daher mehr als angebracht.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Elena Matera (RiffReporter) dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Der Humboldt-Gletscher, auch bekannt als "La Corona" (die Krone), strömte über Tausende Jahre langsam talwärts, angetrieben durch sein eigenes Gewicht. Doch nun hat seine Kraft endgültig nachgelassen. Todesursache: Klimawandel.

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Wegen seiner geringen Größe von weniger als zwei Hektar wurde er von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Mai zu einem Eisfeld erklärt, wie etwa der "Guardian" berichtete. Venezuela sei nun der erste Staat in der jüngeren Vergangenheit, der gletscherfrei geworden ist.

Die meisten tropischen Gletscher findet man in den Anden

Wie der Name schon vermuten lässt, wurde der Gletscher nach dem berühmten Naturforscher Alexander von Humboldt benannt, der 1799 nach Venezuela reiste. Während seines Aufenthalts erlebte Humboldt die verheerenden Auswirkungen der Waldrodungen für Plantagen der damaligen spanischen Kolonie. Er soll übrigens einer der ersten Wissenschaftler gewesen sein, der über den Zusammenhang zwischen menschlichen Aktivitäten und Klimaveränderungen gesprochen hat.

Ich war selbst nie in Venezuela und habe den Humboldt-Gletscher persönlich nie gesehen. Dass ein Gletscher wie er überhaupt in den Tropen existieren kann beziehungsweise konnte, verdankt er dem kalten und schneereichen Klima in den hohen Lagen der Anden.

Das Eisfeld, das vom Gletscher übriggeblieben ist, befindet sich an einem Hang unterhalb des Gipfels des rund 4.942 Meter hohen Pico Humboldt, dem zweithöchsten Berg Venezuelas. Die meisten tropischen Gletscher der Erde befinden sich in den tropischen Anden, die sich durch Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien erstrecken.

Grund für die Gletscherschmelze: der Klimawandel

Alle diese Länder werden wie Venezuela in den kommenden Jahrzehnten gletscherfrei werden. Der Grund: der menschengemachte Klimawandel. Die Erwärmung der Lufttemperaturen lässt das Eis schmelzen – weltweit.

2018 vermuteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch, dass das Verschwinden des Humboldt-Gletschers noch mehr als zehn bis zwanzig Jahre dauern werde. Das Sterben ging nun doch schneller als gedacht. Tatsächlich hatte die venezolanische Regierung vergangenes Jahr noch versucht, die letzten Reste des Gletschers zu retten, indem sie ihn mit Textilplanen bedecken ließ – eine riesige, kostenintensive Rettungsaktion. Ohne Erfolg.

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Ein Trost bleibt: Das Verschwinden des Gletschers werde sich nicht direkt auf die lokalen Wasserressourcen auswirken, da der Gletscher ohnehin sehr klein sei, sagen Forschende. Doch der kulturelle Verlust schmerzt. Alle Gletscher in der Region gehörten zur kulturellen Identität der Menschen, wie eine bekannte Legende der Timoto-Cuica, einem indigenen Volk aus den Anden, deutlich macht.

Die Legende von den fünf Adlern

Der Legende nach flogen einst fünf riesige Adler mit schneeweißen Flügeln in den Anden umher. Caribay, die schöne Tochter des Stammeshäuptlings, war so fasziniert von den Adlern, dass sie das Gefieder der Vögel besitzen wollte, um sich damit zu schmücken.

Also jagte Caribay die Vögel, verfolgte sie in die Berge. Doch die Adler flogen immer höher und höher – und es wurde dunkel und kalt. Verängstigt betete Caribay auf einem der Gipfel zur Mondgöttin. Und ihr Gebet wurde erhört. Die weißen Adler kamen in ihre Nähe, ruhten sich auf den Bergen aus.

Als Caribay sich leise anschlich und einen der Adler berührte, um eine Feder zu entreißen, spürte sie eine lähmende Kälte in ihrem Körper. Sie rannte erschrocken fort. Caribay ging in jener Nacht auf den Gipfeln verloren und wurde zum Geist der Anden. Die fünf Adler versteinerten und verwandelten sich in fünf riesige Gletscher, die die Gebirgskette Sierra Nevada de Mérida in Venezuela krönen. Oder besser gesagt: krönten.

Zwei Drittel der Gletscher werden bis 2100 verschwinden

Bis zur Jahrtausendwende existierten die fünf Gletscher noch, die der Legende nach einst Adler waren. Mittlerweile sind die Eiszungen alle verschwunden – zuletzt nun der Humboldt-Gletscher. Und ja, natürlich macht das etwas mit den Menschen vor Ort, die sich die Legende von den weißen Adlern und der Häuptlingstochter Caribay jahrhundertelang erzählt haben.

Wie der Humboldt-Gletscher schrumpfen und verschwinden auch andere Gletscher auf der ganzen Welt schneller, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bisher dachten. Laut einer Studie aus dem Jahr 2023 werden bei den derzeitigen Klimatrends rund zwei Drittel der Gletscher bis zum Jahr 2100 verschwunden sein. Bei den in der Studie berücksichtigten Gletschern geht es um Gebirgsgletscher, also nicht um das Eis auf Grönland und in der Antarktis. Deutschland werde vermutlich schon 2035 gletscherfrei sein.

Meeresspiegelanstieg, Wassermangel, Dürrekatastrophen

Neben dem kulturellen Verlust haben geschmolzene Gletscher auch weitere gravierende Folgen für uns Menschen. Gletscher sind wichtige natürliche Süßwasserspeicher. Wenn Gletscher schmelzen, fließt das in ihnen gespeicherte Wasser ins Meer und steht nicht mehr als Trinkwasser zur Verfügung.

Dadurch sinkt der Grundwasserspiegel in den betroffenen Gebieten. Die Folgen: akuter Wassermangel, ausgetrocknete Flussbetten und daraus resultierende Dürrekatastrophen. Gleichzeitig steigt der Meeresspiegel stark an. Die Gletscherschmelze trägt rund 30 Prozent zum Anstieg des globalen Meeresspiegels bei.

Wenn Gletscher zu viel Masse verlieren, wird aufgrund von sogenannten Rückkopplungseffekten ein vollständiges Abschmelzen unvermeidlich. Denn: Je mehr Eis schmilzt, desto mehr dunkles Gestein wird offengelegt. Dunkle Oberflächen erwärmen sich schneller als helle, das Eis schmilzt also noch schneller.

Das Verschwinden des Humboldt-Gletschers macht wieder einmal deutlich, welche Folgen der menschengemachte Klimawandel hat. Noch können wir das Abschmelzen vieler weiterer Gletscher aufhalten – wenn wir nur wollten.

Ich persönlich würde die Legende mit der Häuptlingstochter und den Adlern gerne weiterspinnen: Mit dem Verschwinden des letzten Gletschers könnten die fünf weißen Adler wieder "befreit" sein und frei umherfliegen. Vielleicht nähmen sie ja Caribays Geist mit in die Höhe und zeigten ihr die Welt von oben. Dann hätte das Verschwinden des Gletschers wenigstens ein kleines Happy End.

Verwendete Quellen

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