Für den Juli sagen Wetterdienste für Teile von Deutschland bereits die nächste Hitzewelle vorher. Dea Niebuhr, Professorin am Fachbereich Gesundheitswissenschaften der Hochschule Fulda erklärt, warum unser Hitzewarnsystem in Deutschland zu spät alarmiert. Ein Gespräch über Hitze – und was einen guten nationalen Hitzeaktionsplan ausmacht.

Ein Interview

Was war der Weckruf für besseren Hitzeschutz?

Mehr zum Thema Klimakrise

Dea Niebuhr: 2003 hatten wir den sogenannten Jahrhundertsommer in Europa – mit rund 70.000 europaweiten zusätzlichen hitzebedingten Todesfällen, davon 15.000 Hitzetote in Frankreich und 7.500 Hitzetote in Deutschland.

Hat die Politik darauf reagiert?

Von 2003 bis 2017 passierte in Deutschland im Grunde genommen nichts – obwohl die Anzahl extrem heißer Tage zunahm. Die "Handlungsempfehlungen für die Erstellung von regionalen Hitzeaktionsplänen zum Schutz der menschlichen Gesundheit" 2017 waren in einer vom Bundesumweltministerium geleiteten Bund-Länder-Ad-hoc-Arbeitsgruppe das Startsignal. Diese Arbeitsgruppe hat dann die Empfehlungen der WHO aus dem Jahr 2008 für deutsche kommunale Verhältnisse angepasst.

Was ist das Ziel?

Diese Hitzeaktionspläne der Kommunen und Landkreise sollen akute Maßnahmen für das Vorgehen bei Hitze sowie langfristige Maßnahmen für die Stadtplanung enthalten und außerdem festschreiben, wie diese Maßnahmen überwacht werden. Einige Kommunen und Bundesländer haben bereits einen Hitzeaktionsplan entwickelt und sind dabei, diesen zu implementieren. Ein bundesweiter Hitzeaktionsplan war nie vorgesehen!

"Man muss gefährdeten Gruppen nicht nur sagen, ihr müsst Obst und Gemüse essen und mehr trinken – sondern ganz genau beschreiben, wie viel von was und warum."

Dea Niebuhr über die Schwächen der Informationspolitik zum Hitzeschutz

Wie bewerten Sie die aktuellen Pläne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach?

Ein nationaler Hitzeaktionsplan macht nur dann Sinn, wenn er einen rechts- und planungssicheren Rahmen für die bereits bestehenden und künftigen Pläne in den Kommunen und Ländern bildet. Vor allem müssen die Zuständigkeiten und die Finanzierbarkeit der Maßnahmen hier geklärt sein. Wir brauchen kommunale Lösungen und wir benötigen viel mehr Partizipation. Sie können nicht einfach den gefährdeten Bevölkerungsgruppen Informationen vor die Füße werfen und sagen "Bitte, wir haben euch informiert", sondern müssen das ganz genau erklären. Zum Beispiel, warum eine Schwangere eine überlastete Thermoregulation hat. Warum sie im letzten Trimester nicht nur mindestens 630 Milliliter zusätzlich trinken muss, sondern auch Elektrolyte benötigt.

Bei Hitze sollten Schwangere Elektrolyte zu sich nehmen?

Ja. Es sind Notaufnahmen von Schwangeren dokumentiert die zwar genug getrunken, aber kaum Elektrolyte zu sich genommen hatten. Man muss gefährdeten Gruppen nicht nur sagen, ihr müsst Obst und Gemüse essen und mehr trinken – sondern ganz genau beschreiben, wie viel von was und warum.

Wie funktioniert Hitzeschutz aktuell in den Städten und Gemeinden?

Die erste Stadt, die einen Hitzeaktionsplan vorgelegt hatte, war Köln, fokussiert auf Bewohner über 65 Jahren. Dann folgten Offenbach am Main, Mannheim, und einige andere. Die Konzepte sind sehr unterschiedlich, manche zielen ausschließlich auf Ältere, andere beziehen alle vulnerablen Gruppen ein wie in Mannheim oder Worms. Zahlreiche Städte und Gemeinden haben einzelne Maßnahmen umgesetzt.

Dann kann es endlich losgehen mit mehr Hitzeschutz?

Stellen Sie sich vor: Es wird eine Person für den Hitze-/Klimaschutz eingestellt, dann muss der- beziehungsweise diejenige erst einmal ein Netzwerk bilden. Das dauert. Das Gesundheitsamt hat etwa keinen Zugriff auf vertragsärztliche Praxen – ein Hausarzt, eine Hausärztin hat auch nicht gerade auf das Gesundheitsamt gewartet. Krankenhäuser wiederum sind Ländersache, die haben kaum Berührung mit dem örtlichen Gesundheitsamt.

Welche Problematik besteht derzeit?

Aktuell hat sich noch kein einziger dieser Hitzeaktionspläne in der Realität bewährt.

Inwiefern?

Weil sie erst vor Kurzem entwickelt wurden. Wir wissen deshalb nicht, ob die Maßnahmen wirklich greifen, denn sie wurden noch nicht evaluiert. Ein Hitzeaktionsplan braucht ein bis drei Jahre, bis das gesamte Netzwerk zusammen ist. Sie müssen mit einer Maßnahme anfangen, etwa im stationären Pflegebereich, dann kommen viele weitere Bausteine dazu – auch solche, die nicht Aufgaben der Kommunen und Städte sind.

Das klingt sehr kompliziert.

Wichtig ist, Zeit einzuplanen. Und ein Netzwerk mit Akteuren aus unterschiedlichen Sektoren zu bilden, dann mit den Klimabeauftragten aus den städtischen Verwaltungen und den unterschiedlichen Dezernaten zusammenzuarbeiten. Dann braucht man jemanden, der dieses Netzwerk verantwortet. Die Bundesländer müssen klären, wer das ist – das Umwelt- oder Gesundheitsministerium – oder beide?

Auf welche Widerstände stoßen diejenigen, die mehr Hitzeschutz zu den Menschen bringen wollen?

Je nach Landkreis ist das politische Bewusstsein unterschiedlich aufgestellt. Sie treffen auf Landkreisräte, die sagen: Das ist nicht prioritär oder wir haben nicht die finanziellen Mittel, um jetzt in den Hitzeschutz zu investieren.

Blicken wir nach Frankreich. Unser Nachbarland wird oft als Vorbild genannt. Wie sieht Hitzeschutz dort konkret aus?

Frankreich hat bereits seit 2004 einen Hitzeaktionsplan – also ein Jahr nach dem Jahrhundertsommer. Dieser Plan ist gekoppelt an den Katastrophenschutz – und das Gesundheitsministerium arbeitet mit dem dortigen Wetterdienst eng zusammen. Vom 1. Juni bis 15. September tritt in jedem Sommer ein vierstufiges Warnsystem in Kraft. Hitzewellen sind in Frankreich als Zeiträume definiert, in denen die durchschnittlichen Minimal- und Maximaltemperaturen an drei aufeinanderfolgenden Tagen die definierten Schwellenwerte von den jeweils insgesamt 96 Départements überschreiten.

Wie funktioniert der Hitzeaktionsplan "Plan National Canicule" in Frankreich?

Der Plan hat vier verschiedene Warnstufen – von grün (Phase der erhöhten Wachsamkeit) bis rot (maximaler Einsatz in der Hitzewelle). Erreicht eine Region die dritte Stufe (orange) treten Notfallmaßnahmen in Kraft, die bereits während der zweiten Stufe (gelb) vorbereitet wurden. In den betroffenen Regionen sind Kältesäle geöffnet. Hausbesuche bei chronisch Erkrankten werden intensiviert. In den Medien wird über die Symptome eines Hitzschlags informiert. Eine Notfallnummer wird eingerichtet. Menschen können sich in ein sogenanntes Hitzeregister eintragen und werden zeitnah kontaktiert. Krankenhäuser haben oft bei Stufe 3 Betten für Aufnahmen der Notfälle aufgestockt. Die höchste Warnstufe 4 tritt bei Temperaturen von über 40 Grad in Kraft. Es kann der Katastrophenfall ausgerufen werden. In den betroffenen Regionen können dann zum Beispiel Kindergärten schließen und weitere Maßnahmen, die die Wasserversorgung, Dürre und Waldbrände, aber auch die Versorgung gefährdeter Menschen betreffen, werden eingeleitet.

Wie ist das in Deutschland?

Katastrophenschutz ist hierzulande Ländersache. Zum Katastrophenschutz gehören zum Beispiel Überschwemmungen und Waldbrände. Und was nicht? Hitze! Dabei verursachen Hitzewellen die höchste Mortalität – und eben nicht Fluten oder Brände. Hitzeextreme müssen in die Katastrophenschutzgesetze der Länder aufgenommen werden.

"Hitze macht aggressiver, Unfälle häufen sich."

Dea Niebuhr darüber, warum Hitze uns alle betrifft

Stichwort Hitzewarnsystem: Warum muss dringend früher gewarnt werden?

Deutschland hat zwei Warnstufen. Der Deutsche Wetterdienst ruft die erste Hitzewarnstufe aus, wenn die gefühlte Temperatur am frühen Nachmittag 32 Grad übersteigt. Erst wenn die gefühlte Temperatur 38 Grad übersteigt, gilt die zweite Warnstufe. Bei 38 Grad, da haben wir hier Wüstentage – das sind Tage ab 35 Grad. Das ist einfach zu spät. Es geht nicht um das subjektive Wärme- oder Kälteempfinden eines Menschen, sondern um die Maßnahmen, die an die Hitzewarnstufen gekoppelt sind und bereits bei viel geringeren Temperaturen an heißen Tagen vorbereitet und umgesetzt werden müssen.

Warum muss Deutschland dringend ins Handeln kommen?

Abgesehen von den vulnerablen Gruppen betrifft Hitze uns alle: Hitze macht aggressiver, Unfälle häufen sich. Und dann kommen weitere Faktoren dazu: Weniger Touristen kommen in die Städte, der Umsatz bricht ein. Hitze macht wirtschaftliche Schäden. Das Hauptproblem ist bei uns die Kommunikation.

Warum?

Ich bin oft an Bahnhöfen in Deutschland unterwegs. Nirgends wird dort mit digitalen Tafeln an sehr heißen Tagen über Hitze aufgeklärt. Nicht alle Menschen besitzen ein Smartphone oder hören die Warnmeldungen. Man muss sich wirklich überlegen, wie kommt die Information zu den gefährdeten Menschen? Ein Projekt in Japan hat einen einfachen Weg gezeigt: Dort hat man Senioren kostenlos schwere Wasserflaschen geliefert – zusammen mit Hinweisen zum Hitzeschutz.

Worüber wird noch zu wenig gesprochen?

Über schnelle Temperaturwechsel der Hitzetage in Zusammenhang mit hoher Luftfeuchtigkeit – Ärzte nennen das "Schlaganfallwetter". Und über das Zusammenwirken mit Schadstoffen wie etwa Ozon auf die Gesundheit, vor allem aber bei Vorerkrankten. Auch über die richtige Dosierung von Medikamenten während extremer Hitze wissen zu wenige Bescheid.

Lesen Sie auch:

  • Rekordwärme des Nordatlantiks könnte heißen Sommer bringen
  • Studie: Klimawandel kostet Deutschland bis 2050 bis zu 910 Milliarden Euro
  • Damals Sommer, heute Hitze-Panik? Warum solche Erinnerungen trügen

Worauf muss ich achten, wenn ich Medikamente nehmen muss?

Viele Menschen nehmen mehrere Medikamente täglich ein, diese interagieren miteinander. Wir wissen sehr wenig darüber, was dieser Melting Pot eigentlich anrichtet. Auch sind einzelne Wirkstoffe bereits ab 25 Grad Celsius hitzeempfindlich, verändern ihre Wirkung oder sind sogar wirkungslos. Das kann lebensbedrohlich sein. Patienten und deren behandelnde Ärzte sollten das stärker im Blick haben.

Wo kann man sich als Mediziner über Arzneimittel und Hitze informieren?

Die "Heidelberger Tabelle" gibt Informationen zum Umgang mit Arzneimitteln bei Hitze. Doch die Heidelberger Tabelle ist kaum bekannt bei den Ärzten – im gesamten Gesundheitswesen ist viel Notstand, was die Fort- und Weiterbildung der Gefahren durch Hitze anbetrifft.

Was fordern Sie von der Politik?

Klar kostet Hitzeschutz. Aber wenn wir nichts tun, kosten uns die Folgen des Klimawandels bis 2050 allein in Deutschland zwischen 280 und 900 Milliarden Euro. Die Folgen von Hitze werden oft unterschätzt, dabei müssen wir mit geringerer Arbeitsproduktivität, die Landwirte mit erheblichen Ertragsverlusten rechnen. Nicht eingerechnet in den Zahlen sind die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Todesfälle durch etwa Hitze, der Verlust von Artenvielfalt – und eine schlechtere Lebensqualität.

Frau Niebuhr, herzlichen Dank für das Gespräch.

Zur Person: Dea Niebuhr ist seit 2008 als Professorin für Health Technology Assessment und Gesundheitssystemdesign am Fachbereich Gesundheitswissenschaften der Hochschule Fulda. Seit 2023 ist sie zudem Mitglied der Leitung im Public Health Zentrum Fulda. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe "Klimawandel und Gesundheit" mit dem Schwerpunkt evidenzbasierte Bewertung von Interventionen in Hitzeaktionsplänen. Mitgewirkt hat sie unter anderem bei der Ausarbeitung eines Gutachtens für den Hitzeaktionsplan Brandenburg. Außerdem war sie Reviewerin in dem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) beauftragten Projekt "Kosten durch Klimawandelfolgen in Deutschland" im Wissenschaftlichen Beirat.

Verwendete Quellen:

  • Deutscher Wetterdienst: Bei welchen Kriterien wird eine Hitzewarnung herausgegeben?
  • Heidelberger Hitze-Tabelle
  • Die Bundesregierung: Die Kosten des Klimawandels
  • Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz: Kosten durch Klimawandelfolgen in Deutschland
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

  © RiffReporter

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.