Bereits im Alter von vier Jahren soll William Sidis in der Lage gewesen sein, einen Text auf Altgriechisch zu lesen. Mit elf kam er als der jüngste jemals zugelassene Student an die Universität Harvard. Sein IQ wird auf 250 bis 300 geschätzt, womit er als einer der klügsten Menschen der Geschichte gilt. Laut seinem Vater Boris Sidis war das jedoch weniger eine Frage der Gene als vielmehr das Ergebnis einer konsequenten Erziehungsmethode - die letztlich allerdings tragisch scheiterte.

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Die Grundidee von Boris Sidis war einfach: Kinder sollten so früh wie möglich wie Erwachsene behandelt werden – freundlich, aber keinesfalls verhätschelnd; unterstützend, jedoch ohne übermäßige Emotionen. Boris Sidis wurde 1867 in der heutigen Ukraine geboren und hatte selbst einen steilen Bildungsaufstieg hinter sich: Nur zehn Jahre nach seiner Ankunft in den USA (1887) promovierte er in Harvard.

Seinem Sohn William, der 1898 auf die Welt kam, vermittelte er von frühester Kindheit an die Prinzipien seiner Erziehungsmethode: Probleme eigenständig lösen, Muster erkennen und immer rational handeln. William konnte bereits mit 18 Monaten lesen, mit vier Jahren Werke auf Altgriechisch sowie Latein verstehen und beherrschte wenig später sieben Fremdsprachen.

Mit elf wurde er schließlich zum jüngsten Studenten, der jemals in Harvard zugelassen wurde. Doch dieser Meilenstein markierte zugleich den Beginn seines Niedergangs.

William Sidis und die New York Times

Die Universitäten wussten nicht recht, wie sie mit einem so jungen Studenten umgehen sollten. William Sidis bestand mühelos die Aufnahmeprüfungen sowohl am Massachusetts Institute of Technology (MIT) als auch an der Harvard University.

William Sidis
William Sidis hat in den letzten Jahren seines Lebens endgültig mit der Wissenschaft gebrochen. © The Sidis Archives/Wikipedia

Mit gerade einmal elf Jahren hielt er in kurzen Hosen Vorträge vor dem Mathematischen Club in Harvard. Professoren aus ganz Neuengland waren angereist, um seinen Ausführungen über vierdimensionale Körper zu lauschen. Daneben verfügte er über fundiertes Wissen in Anatomie, Wirtschaft, Politik und vielen anderen Fächern.

Am 6. Januar 1910 berichtete die "New York Times" erstmals über das Wunderkind und schrieb kurz darauf: "Sidis' Vortrag sollte unsere Erziehungsmethoden revolutionieren. Er ist kein Kind des Zufalls, sondern Ergebnis eines rigorosen Trainingsplans."

Über Nacht wurde Sidis zum Star, und Berichte über ihn sowie seinen Vater erschienen fast täglich. Boris Sidis nutzte die mediale Aufmerksamkeit, um seine Erziehungsideale zu verbreiten, ohne dabei Rücksicht auf Williams Bedürfnisse oder dessen Gesundheit zu nehmen. William selbst hasste den Ruhm.

Ältere Kommilitonen hänselten ihn wegen seines Alters

Mit 16 Jahren schloss William Sidis sein Studium in Harvard mit dem Bachelor of Arts ab. Eigentlich hätte er diesen Abschluss schon mit 15 erhalten sollen, "doch wurde er dafür als noch zu jung erklärt", wie die "New York Times" 1914 berichtete.

Im universitären Alltag fand sich Sidis jedoch nie richtig zurecht – nicht aus fachlichen Gründen, sondern weil ältere Kommilitonen ihn wegen seines jungen Alters hänselten.

In einem Interview mit dem Boston Herald äußerte er sich außerdem pazifistisch zum Ersten Weltkrieg – in einem von Patriotismus geprägten Amerika ein Fauxpas, der von anderen Medien bereitwillig verbreitet wurde.

Was bedeutet der Begriff "Pazifismus"?

  • Der Begriff "Pazifismus" kommt von dem lateinischen Wort "pacificus", was "friedliebend" bedeutet. Pazifismus bezeichnet demnach eine Grundhaltung, die jede Anwendung von Gewalt ablehnt und mit aller Kraft für den Frieden eintritt, wie es auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung heißt.

Wunderkind wird zweimal festgenommen

Schließlich kehrte William der Universität den Rücken. 1919 wurde er zusammen mit rund 100 anderen Personen verhaftet. Man warf ihnen vor, aufständische Jugendliche für den Kommunismus rekrutiert zu haben. Sein Vater bezahlte eine Kaution von 5.000 Dollar, um ihn aus dem Gefängnis zu holen – die New York Times schrieb am 3. Mai 1919 über das "einstige Harvard-Wunderkind".

Nur kurze Zeit später wurde Sidis erneut festgenommen, diesmal wegen seiner Teilnahme an einer sozialistischen Parade in Boston. Er erhielt eine Haftstrafe von zwei Jahren. Seine Eltern überzeugten die Richter jedoch davon, ihn stattdessen in ein kalifornisches Sanatorium einzuweisen, "um ihn umzuerziehen".

Stumpfer Job für das "perfekte Leben"

1921 kehrte Sidis an die Ostküste zurück und bemühte sich fortan um ein ruhiges, zurückgezogenes Leben jenseits des Medienrummels. Zwei Jahre später, im Jahr 1923, starb sein Vater Boris an einer Hirnblutung. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete William bereits an einer Rechenmaschine – eine für ihn stumpfsinnige Tätigkeit.

Auf der Suche nach dem "perfekten Leben" blieb er viele Jahre in der Isolation. Die Angst vor einer erneuten Verhaftung begleitete ihn zeitlebens. Er war überzeugt davon, dass ein perfektes Leben möglichst wenig Öffentlichkeit und eine monotone Arbeit voraussetzte.

In seiner Freizeit sammelte er mit beinahe obsessiver Leidenschaft Daten und Aufzeichnungen über Straßenbahnen und veröffentlichte eigene Zeitschriften im Selbstverlag. Außerdem unterrichtete er einen kleinen Kreis interessierter Freunde in seiner persönlichen Sicht auf die Geschichte der Vereinigten Staaten. Dabei hob er den Einfluss der amerikanischen Ureinwohner besonders hervor.

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Sidis bricht endgültig mit der Wissenschaft

Seine letzten Lebensjahre verbrachte William Sidis zurückgezogen in einer kleinen Wohnung in Boston. Mit der Mathematik und der Wissenschaft hatte er endgültig gebrochen. 1944 starb er – wie sein Vater – an einer Hirnblutung. Die New York Times widmete ihm erneut einen ausführlichen Artikel und schrieb: "Der Wunderknabe wurde schwer krank im Koma aufgefunden und kam nie wieder zu Bewusstsein."

1952 fasste seine Schwester das tragische Bild, das die Medien von ihm gezeichnet hatten, so zusammen: "Die Zeitungen ließen keine Gelegenheit aus, um zu behaupten, er sei geisteskrank, psychotisch oder einfach nur ein Freak. In Wahrheit war Billy ein ganz normales Kind, in jeder Hinsicht."

Verwendete Quellen