Über 2.000 Kilometer per Pferdedroschke von Berlin nach Paris und zurück: Mit einer tollkühnen Fahrt protestierte der "eiserne Gustav" vor fast 100 Jahren gegen die steigende Zahl an Automobilen und den Niedergang des Droschkenwesens. Am 4. Juni 1928 erreicht er die Champs Élysées. Es ist die Geschichte eines genialen Sturkopfs.
Man könnte ihn ein Berliner Original nennen. Einen Rekordjäger. Ein Marketing-Genie. Wahrscheinlich war er aber ganz einfach ein Sturkopf. Genau diese Eigenschaft sollte Gustav Hartmann, genannt "Der eiserne Gustav", einen Eintrag in den Geschichtsbüchern bringen.
Seinen Beinamen hatte sich der Droschkenfahrer schon lange vor der Rekordfahrt nach Paris verdient. Weil er über viele Jahre täglich an seinem Stammplatz am Bahnhof Wannsee stand und eisern auf seine Kunden wartete – oft, bis der letzte Zug durch war.
Dort, am Bahnhof Wannsee, kam es der Legende nach zu einer Begegnung, die Hartmann zu seinem Abenteuer inspirieren sollte. Seine Enkelin Ursula Buchwitz-Wiebach schildert die Szene gegenüber dem Deutschlandfunk:
- "Dann kam eines Tages eine Französin, Madame Rachel Dorange, und hat mit ihm gesprochen."
- "Ja, wo kommt denn Madame her?"
- "Aus Paris aufm Pferd."
- "Ach, was eine Frau kann, das kann ich auch! Ich werde Sie im nächsten Jahr besuchen."
Der "eiserne Gustav" war inspiriert von Rekordjägern der 20er-Jahre
Rachel Dorange, genannt "die Amazone", war ein ehemaliges Model und Zirkusreiterin aus Paris. Ihr Ritt nach Berlin war nur der Auftakt zu einer ganzen Reihe an ähnlichen Touren, zum Beispiel nach Bukarest, Barcelona oder Rom.
Überhaupt waren Rekordjagden in Mode zu der Zeit. Im Mai 1927 hatte Charles Lindbergh den Atlantik überquert. Der Brite Henry Segrave, genannt "der Tempogigant", jagte seinen mit Flugzeugmotoren angetriebenen Rennwagen "Golden Arrow" auf 372 km/h. Und die Industriellentochter Clärenore Stinnes umrundete gar in einem Serienwagen die Welt.
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Hartmann jedoch ging es um mehr als einen Rekord. Mit seinem Fuhrunternehmen hatte er sich ein ordentliches Auskommen aufgebaut, nachdem er als Kolonialwarenhändler gescheitert war. Was über Jahrzehnte gut funktioniert hatte, war jedoch plötzlich von einer neumodischen Erfindung bedroht – der sogenannten "Kraftdroschke".
Im Jahr 1928 hatten diese motorgetriebenen Taxis den Pferdedroschken längst den Rang abgelaufen. 9.115 Kraft- und nur noch 281 Pferdedroschken waren in den Straßen Berlins unterwegs. Das Schicksal der Pferdedroschken besiegelte schließlich die Berliner Droschkenordnung von 1927 mit einem einzigen Satz: "Eine Erlaubnis zum Betrieb von Pferdekutschen wird nicht mehr erteilt."
Berlin nach Paris mit 1 PS: Ein cleverer Marketing-Stunt
Mit seiner Aktion wollte Hartmann auf diesen – aus seiner Sicht – Missstand aufmerksam machen. Zwar besaß er selbst zwei Automobile, soll aber ein schlechter Fahrer gewesen sein. Man kann die Fahrt nach Paris also als cleveren Marketing-Stunt betrachten. Und diesen plante der "eiserne Gustav" minutiös.
So brachte er auf seiner Droschke folgende Aufschrift an: "Der älteste Fuhrherr von Wannsee, Gründer der Wannseedroschken, erlaubt sich, mit der Droschke 120 die letzte Fahrt Berlin – Paris zu machen, da das Pferde-Material im Aussterbeetat steht."
Der Ullstein-Verlag sprang als Sponsor ein und half, die Reisepapiere zu beschaffen. Ein Reporter der "Berliner Morgenpost" reiste mit und berichtete von der Fahrt. Außerdem hatte Hartmann 10.000 Postkarten produziert, die er verkaufen wollte.
Was dagegen fehlte, war eine Landkarte. Oder Französischkenntnisse. Am 2. April ging es dann los. Mit einer einzigen Pferdestärke, die auf den Namen Grasmus hörte, einem 13-jährigen Fuchswallach.
Nach tausend Kilometern erreicht der "eiserne Gustav" Paris
Die Reise führt über Magdeburg, Köln, Trier, Saarbrücken. In Frankreich schlägt sich Hartmann mit einem freundlichen "Bonjour" durch. Er besucht Soldatenfriedhöfe und die Schlachtfelder von Verdun. Das kommt rund zehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg gut bei den Franzosen an.
Am 4. Juni wird Hartmann von einer jubelnden Menschenmenge in Paris empfangen. Es ist sein 69. Geburtstag. Der deutsche Botschafter lädt zum Bankett ein, die Pariser Fuhrunternehmer ernennen ihn zum Ehrenkutscher.
Auch in Deutschland berichtet die Presse. Der "eiserne Gustav" ist endgültig zum Medienstar aufgestiegen. Erich Kästner feiert ihn in einem Gedicht. Hans Fallada schreibt 1938 einen Roman über ihn. 1958 verkörpert ihn Heinz Rühmann in einem Spielfilm.
Hunderttausende bejubeln den "eisernen Gustav" bei der Ankunft in Berlin
Noch eindrucksvoller ist vielleicht eine Filmsequenz von gerade mal elf Sekunden. Sie zeigt den "eisernen Gustav" bei seiner Rückkehr nach Berlin gut zwei Monate, nachdem er wieder von Paris aufgebrochen ist.
Hartmann sitzt in seiner reich mit Blumen und Fahnen geschmückten Droschke. Hunderttausende jubeln ihm am Brandenburger Tor zu; einem älteren Mann mit Zylinder und Rauschebart, das Jackett voller Anhänger und Orden. Man spürt selbst in dieser kurzen Schwarzweiß-Aufnahme den Stolz, der ihn erfüllt.
Dass seine Branche nicht mehr zu retten war, dürfte ihm da bereits bewusst gewesen sein.
Verwendete Quellen
- deutschlandfunk.de: Vor 90 Jahren: Der „Eiserne Gustav" trifft mit seiner Droschke in Paris ein
- wdr.de: 4. Juni 1928 – Der "Eiserne Gustav" trifft mit seiner Pferdedroschke in Paris ein
- berlingeschichte.de: Berlin im Jahr 1928
- heise.de: Zahlen, bitte! 226 Pferdedroschken sowie einmal Berlin – Paris und zurück
- youtube.com: Eiserner Gustav Droschkenkutscher 1928/Iron Gustav Cabman 1928
- books.google.de: Erich Kästner: Die Montagsgedichte
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