Nach "Cum-Ex" und "Cum-Cum" droht Deutschland ein neuer Steuerskandal: Diesmal sollen Banken und Investoren den deutschen Staat mit Aktien, die gar nicht existieren, um sehr viel Steuergeld geprellt haben. Wie genau funktioniert die neue Masche? Wir erklären die Hintergründe der "Phantomaktien-Affäre".

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Im Ministerium von Finanzminister Olaf Scholz an der Berliner Wilhelmstraße klingen die Alarmglocken. Hektisch werden Prüfaufträge an die Finanzämter geschickt. "Die Recherchen der Medien weisen auf einen ernsten Vorgang hin", heißt es aus dem Ministerium.

Dass Scholz' Behörde erst auf Medienanfragen hin ermittele, sei "kaum zu glauben", sagt FDP-Finanzexperte Florian Toncar. Anlass ist eine Affäre um einen möglichen Steuerbetrug mit "Phantomaktien".

Was ist passiert?

Die Staatsanwaltschaft Köln geht einer bislang unbekannten Betrugsmasche nach, mit der Banker und Aktienhändler möglicherweise Millionenbeträge an deutschem Steuergeld ergaunert haben könnten.

Staatsanwalt René Seppi betonte, dass es Auffälligkeiten bei Geschäften mit "American Depositary Receipts" (kurz ADR) gebe, auf die man im Zuge der "Cum-Ex"-Ermittlungen gestoßen sei.

ADRs sind spezielle Papiere, die von Banken ausgestellt und in den USA stellvertretend für ausländische Aktien gehandelt werden. Jedem ADR-Papier muss eine echte Aktie zugrunde liegen – eigentlich.

Großbanken und Aktienhändler wird nun laut Recherchen von WDR und "Süddeutscher Zeitung" vorgeworfen, in den USA Millionen von ADR-Papieren herausgegeben zu haben, die eben nicht mit echten Aktien hinterlegt waren.

Was ist dran an den Vorwürfen?

In den USA laufen schon länger Ermittlungen der US-Börsenaufsichtsbehörde SEC. Erst im November hat die US-amerikanische Citibank einem Vergleich zugestimmt, über 38,7 Millionen US-Dollar (33 Millionen Euro), weil die ADR-Papiere nicht mit echten Aktien und damit konkreten Werten hinterlegt waren.

Zwei Töchter der Deutschen Bank (DBTCA und DBSI) haben im Juli sogar einem Vergleich über 75 Millionen US-Dollar (etwa 66 Millionen Euro) zugestimmt.

Mit den Papieren wurde dem WDR und der "Süddeutschen Zeitung" zufolge auch in Deutschland erfolgreich die Rückzahlung von nicht zustehenden Kapitalertragssteuern beantragt.

Kapitalertragssteuern sind Abgaben auf Gewinne aus Geldanlagen, etwa Zinsen vom Sparbuch oder Dividenden aus Aktien.

Warum der Name "Cum-Fake"?

Hinter den ADR-Papieren stehen gar keine echten Aktien, es handelt sich um "Phantomaktien" - daher der Name "Cum-Fake" (also mit Fälschung, Schwindel).

Zuvor gab es bereits unter anderen den "Cum-Ex"-Skandal – ein schon gestopftes Steuerschlupfloch, das findige Investmentbanker ausgenutzt haben sollen, um allein den deutschen Staat möglicherweise um bis zu 30 Milliarden Euro zu prellen.

Bei dieser Masche schoben sich Investoren rund um den Dividendenstichtag – also dem Tag, an dem Teile des Gewinns einer AG an die Aktionäre ausgeschüttet werden – Aktien mit (also "cum") und ohne ("ex") Ausschüttungsanspruch rasch zwischen mehreren Beteiligten hin und her, bis dem Fiskus nicht mehr klar war, wem die Aktien zum Stichtag überhaupt gehörten.

Durch diese "Karussellgeschäfte" wurden Bescheinigungen über Kapitalertragsteuern und den darauf entfallenden Solidaritätszuschlag mehrfach ausgestellt – Finanzämter erstatteten also weit mehr Steuern, als sie kassiert hatten.

Wie groß ist der "Cum-Ex"-Schaden?

Auf welche Summe sich der Schaden im Falle der "Cum-Ex"-Geschäfte beläuft, kann man aktuell noch nicht sagen, da auch Geld zurückgezahlt wird. Er ist aber wohl deutlich höher, als anfänglich angenommen. Das haben Untersuchungen des Recherchezentrums "Correctiv" ergeben, an denen unter anderem das ARD-Magazin "Panorama", die Wochenzeitung "Die Zeit" und "Zeit Online" beteiligt waren. Demnach könnte die Schadenssumme europaweit bei rund 55 Milliarden Euro liegen.

Betroffen sind neben Deutschland mindestens zehn weitere europäische Länder. Dänemarks Steuerminister Karsten Lauritzen forderte zuletzt Antworten von der Bundesregierung, weil die Behörden in Deutschland seit 2012 gewusst haben sollen, dass auch Dänemark im Visier der Betrüger war. Eine Warnung erhielten die Dänen nicht. 2012 wurde das Schlupfloch in Deutschland geschlossen.

Wie reagiert das Finanzministerium?

Das Finanzministerium hat per Erlass vorsorglich ein digitalisiertes Erstattungsverfahren gestoppt, das die nicht zustehende Erstattung besonders leicht gemacht haben könnte.

Das Ministerium gehe den Vorwürfen mit Hochdruck nach. "Die Vorgaben für Inhaber von American Depository Receipts (ADR), die berechtigt sind, sich die Kapitalertragsteuer erstatten zu lassen, sind eindeutig und schließen eine unberechtigte Erstattung aus."

So dürfen Steuerbescheinigungen nur für ADR ausgestellt werden, die sich wirklich "im Depot des jeweiligen Instituts befinden und für die die Kapitalertragsteuer auf die dem ADR zugrundeliegende Aktie abgeführt worden ist".

Es werde nun intensiv geprüft, beteiligte Geldinstitute müssten für den möglicherweise entstandenen Schaden haften.

Gerät Olaf Scholz unter Druck?

Der Bundesfinanzminister muss rasch Erklärungen liefern. Der FDP-Politiker Florian Toncar fordert einen Sonderermittler, Scholz müsse dem Bundestag Rede und Antwort stehen.

Der Finanzexperte der Linken, Fabio de Masi, fordert, dass das Bundeszentralamt für Steuern und die Finanzaufsicht BaFin alle Erstattungen rund um den Dividendenstichtag systematisch analysieren und eine Task Force schaffen.

Nötig seien zudem ein europäisches Finanz-FBI "und ein Unternehmensstrafrecht, um die kriminelle Kultur in den Vorstandsetagen auszumerzen und entwendete Steuergelder lückenlos einzutreiben".

Der Grünen-Abgeordnete Gerhard Schick fordert von der Deutschen Bank Auskunft, ob die US-Töchter kriminelle Geschäfte unterstützt haben.

Warum treffen solche Geschäfte die Bürger?

"Wenn Superreiche dem Staat Milliardenbeträge entziehen können, geht das zu Lasten des Zusammenhalts der Gesellschaft und des Vertrauens in die Politik", betont Grünen-Politiker Schick.

Die Gelder, die dem Fiskus so entzogen werden, fehlen zum Ausbau von kostenlosen Kitas, bei der flächendeckenden Digitalisierung des Landes oder für die Modernisierung von Schulen, Brücken und Straßen.

Mit diversen Strafverfahren versucht der Staat, Gelder zurückzubekommen. Doch oft sind Finanzbehörden unterbesetzt, und die Betrüger erfinden einen neuen Trick, um öffentliche Kassen zu prellen. (jwo/dpa)

Verwendete Quellen:

  • Süddeutsche Zeitung: "Wie Cum-Ex, nur krasser: Steuerdiebstahl mit 'Phantom-Aktien'"
  • dpa


  © dpa

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