Viel zu lange wurde Polen von Deutschen nicht ernst genommen, taugte nur als Klischeeland der Autodiebe. Zeit, dass sich das ändert, fordert Jan Böhmermann am Freitagabend in seinem "ZDF Magazin Royale". Aus Freundschaft und Zuneigung – und aus Eigeninteresse. Oder anders formuliert: Zeit für die Realität.
Es gibt Zeiten, da läuft es für Satiriker wie von alleine. Zum Beispiel bei Koalitionsgesprächen und der Besetzung von Ministerposten. Dementsprechend muss sich
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"Wir wissen rein gar nichts über Polen"
Jan Böhmermann
Wie gesagt, Regierungsbildungen sind leichte Zeiten für Satiriker. Deutlich schwieriger ist es da schon beim Hauptthema der jüngsten Ausgabe. Böhmermann gelingt dennoch ein leichtfüßiger und gleichzeitig bissiger Einstieg. Denn mit einer Karte, auf der die Umrisse von Polen zu sehen sein sollen, legt der Satiriker sein Publikum ein ums andere Mal herein, ehe er die Botschaft seines Verwirrspiels mit einer Schlagzeile aus der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zusammenfasst: "Deutsche verbinden mit Polen günstigen Urlaub,
"Wir wissen nichts über Polen. Wir wissen rein gar nichts über Polen, dabei ist Polen unser Nachbarland", erklärt es Böhmermann noch einmal in eigenen Worten und hat eine simple Erklärung: "Wir Deutsche interessieren uns nicht für Polen." Um dem entgegenzuwirken, huscht Böhmermann mit Bildertafeln durch die polnische Geschichte. Die Kernbotschaft: "Polen hat sehr oft in seiner Geschichte richtig auf die Fresse bekommen."
Um den Zuschauern die polnischen Nachbarn noch ein bisschen näherzubringen, schickt Böhmermann seine Kollegin Carolin Worbs für einen satirischen Beitrag nach Breslau, der aber eine deutlich ernstere Aussage hat, wie Böhmermann erklärt: "In Polen spielt sich komprimiert und im Jetzt ab, was die ganze Welt zurzeit bewegt: Rechtspopulismus, Demokratieabbau, der Kampf gegen Rechtspopulismus und Demokratieabbau. Und die Angst vor Krieg."
Und als Worbs einen Mann in Breslau fragt, ob es eine deutsch-polnische Freundschaft gibt, fasst der das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland in Bezug auf die gemeinsame Zukunft und auf die bedrohliche Gegenwart zusammen, wie man es nicht besser hätte zusammenfassen können: "Zum Großteil ja. Mehr als damals. Wenn die Polen schon wollen, dass die Deutschen aufrüsten, dann ist das schon ein gutes Zeichen."
Zeit für die Realität
Mit einer Anlaufzeit von knapp 20 Minuten und einer Aussage von Polens Ministerpräsident Donald Tusk kommt Böhmermann dann endlich zum Kern der Ausgabe: "Wir streben an, bis Ende des Jahres einen fertigen Plan zu haben, sodass jeder erwachsene Mann in Polen für den Fall des Krieges ausgebildet ist", zitiert Böhmermann Tusk und ergänzt, dass Polen aus seiner Geschichte gelernt habe, wie schnell ein Krieg kommen kann. Deshalb schätze Polen die Gefahr eines russischen Angriffs seit Jahren als realistisch ein, und zwar schon "vor der russischen Vollinvasion" der Ukraine.
Und das habe Folgen: "Polen investiert massiv in seine Verteidigung", erklärt Böhmermann und zitiert "zeit.de": "Ab der neunten Klasse lernen polnische Jugendliche in der Schule, mit einer Waffe umzugehen. Für den Ernstfall." Auch über den Besitz von Nuklearwaffen werde in Polen bereits diskutiert. Für Böhmermann der Grund für einen Appell an Deutschland und seine Realitätsverweigerer: "Ich hab auch keinen Bock mich totschießen zu lassen, weil Russland Görlitz haben will oder so was. Aber ich muss mich doch trotzdem gedanklich mal mit der Wirklichkeit auseinandersetzen! […] Wie Polen. Sich der Wirklichkeit stellen, und zwar wirklich."
Und wenn man sich mit dieser Wirklichkeit auseinandersetzt, dann, und das ist der spannendste Teil der aktuellen Folge "ZDF Magazin Royale", stellen sich plötzlich erstaunlich viele Fragen, die Böhmermann laut ausspricht:
- "Was, wenn der kalte Krieg gar nicht wirklich aufgehört hat?"
- "Was, wenn wir im Westen gar nicht gewonnen haben?"
- "Was, wenn Russland nie unser Freund war?"
- "Was, wenn die große Ausnahme nicht unsere aktuelle Weltlage ist, sondern wenn die große Ausnahme die letzten 25 Jahre waren?"
- "Und was, wenn Polen den russischen Braten schon gerochen hat, als Deutschland noch am Kartoffeln schnippeln war?"
Nun kann man bei diesen Fragen leicht ins Philosophische abdriften, wann ein Abschnitt der Geschichte endet und wann ein neuer anfängt, aber darum geht es im Grunde genommen gar nicht. Entscheidend sind die Antworten auf diese ganzen Fragen und die Konsequenzen, die man aus diesen Antworten zieht. "'Heute ist es Georgien, morgen die Ukraine, dann das Baltikum und irgendwann mein Land: Polen', warnte 2008 der damalige polnische Präsident Lech Kaczynski […], als russische Panzer nur wenige Kilometer vor der georgischen Hauptstadt standen", zitiert Böhmermann nur eine von mehreren Meldungen, die eine erste Antwort auf seine Fragen geben.
Schauen wir nach Polen – in Zuneigung und Freundschaft
Jan Böhmermann
Eine andere Antwort gäben, so Böhmermann, derzeit allerdings die USA, indem sie Truppen aus Polen abziehen "und jetzt steckt Polens Präsident Andrzej Duda in einer Riesenzwickmühle." Der sei nämlich Rechtspopulist aus der PiS-Partei. "So was wie die polnische AfD, aber gegen Russland. […], aber für Donald Trump." Wenn die USA mit Russland gemeinsame Sache mache, "wer oder was hilft dann Polen", fragt Böhmermann und fährt fort: "Wie können wir Polen helfen? Mit klugem Pazifismus? Oder mit feiger Realitätsverweigerung? Wie?"
Böhmermanns Antwort: Die polnischen Präsidentschaftswahlen am 18. Mai. "Und diese Wahl ist wirklich wegweisend für Polen und für Europa", erklärt Böhmermann und fordert deshalb: "Schauen wir gemeinsam nach Polen. Und zwar zur Abwechslung mal in Zuneigung und Freundschaft." Ein Ratschlag, den man nicht nur in Kriegszeiten beherzigen sollte und auch das ist Teil von Böhmermanns Botschaft an diesem Freitagabend.
Zeitlassen statt Zeitenwende?
Der egoistischere Teil der Botschaft lautet: Schaut nach Polen und handelt genauso – aus Eigeninteresse. Aber wie plausibel ist das, was Böhmermann da an Argumenten zusammengetragen hat? Sehr plausibel, sagt die Mehrheit aller Experten. Und abgesehen davon: Möchte man denn wirklich herausfinden, wie plausibel Böhmermanns Argumentation ist, indem man nichts macht? Oder noch schlimmer: zu wenig? Sich also in einer Scheinsicherheit wiegt. Zeitlassen statt Zeitenwende praktiziert?
Böhmermanns Aufruf, nach Polen zu schauen, richtet sich daher – und damit sind wir wieder bei der Regierungsbildung – an die künftige deutsche Regierung und an ihre Pläne. Angesichts deren Koalitionsvertrages hegen nämlich nicht wenige Experten Skepsis, ob die Sache mit der Realitätsverweigerung wirklich verstanden wurde. Oder wie es Böhmermann formuliert: "Was, wenn diejenigen, die Europa angreifen, keine Pazifisten sind wie wir?" Doch gar nicht so leichte Zeiten für Satiriker, wenn einem angesichts der Realität das Lachen im Halse stecken bleibt.