Die hochschwangere Nina attackiert einen Wanderer und beißt eine Krankenschwester. Dann flieht sie mit ihrem Mann in den dunklen Wald. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Paar – und mit diesem "Tatort".
Es fängt so gut an. Ein Sommertag im Schwarzwald ohne Bergblümchen und ständiges Kuhglockengeklingel. Nur Nahaufnahmen gestresster, schwitzender Gesichter – authentischer kann man Wandern im Breisgau kaum zeigen. Völlig naheliegend, dass ein Verbrechen da näher liegt als der Gipfel des Feldbergs.
In einer rappelvollen Gondel der "Schwarzwaldbergbahn" (im echten Leben die Schauinslandbahn bei Freiburg) herrscht dicke Luft, weil ein Fahrgast das Fenster nicht öffnen will. Vor allem Nina (Pina Bergemann) geht es richtig schlecht, die Hochschwangere sieht aus, als würde sie jeden Moment umkippen. Zum Glück ist ihr Ehemann Sven (Benjamin Lillie) größer als der dickköpfige Ignorant, greift über ihn hinweg und kippt das Fenster auf. Wortlos schließt sein Kontrahent es wieder. Sven öffnet es, der Mann drückt es wieder zu. Warum er das tut? Solche Fragen sollte man sich bei diesem "Tatort" sofort abgewöhnen.
Schnell herrscht jedenfalls Ärger in der Kabine, die Situation spitzt sich zu, und schließlich greift Nina nach dem kleinen roten Nothammer und schlägt eine Scheibe ein, um Luft zubekommen. Doch im allgemeinen Gerangel muss noch mehr passiert sein – der störrische Fahrgast liegt tot am Boden, und Ninas T-Shirt ist blutüberströmt.
"Die große Angst" erzählt von der Flucht des Paares und von großer Angst, nicht nur Svens und Ninas. Angst haben müssen in diesem "Tatort" nämlich ganz schön viele. Zuerst fährt Sven seine Frau in eine nahe gelegene Klinik, wo Nina die behandelnde Krankenschwester gleich einmal in den Arm beißt. "Aber das ist doch die Sabine!", versucht Sven seine Frau zu beruhigen. Auch mit dem behandelnden Arzt scheinen beide auf vertrautem Fuß. "Edi" nennen sie Doktor Mesut Edem (Sahin Eryilmaz), aber von Edis Vorschlag, Nina dazubehalten und die Polizei zu verständigen, will Sven nichts wissen: Er wolle erstmal "unsere Optionen klären" und Ninas "Schuldfähigkeit" prüfen. Schwanger hin oder her: Ab geht es in den Wald. Es ist heiß, und irgendwann ist es dunkel.
Sehr mysteriös, das Ganze. Irgendetwas ist mit diesem Paar nicht in Ordnung. Svens Hektik und panische Sorge geht über die eines besorgten werdenden Vaters hinaus. In Ninas Augen spiegelt sich mehr als nur die verzweifelte Erschöpfung einer werdenden Mutter. Also wundert man sich erst einmal nicht über die Flucht. Allmählich wundert man sich allerdings doch über so einiges in diesem "Tatort".
Kommissarin Franziska Tobler (Eva Löbau) und ihr Kollege Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) suchen mit einem Spezialtrupp nach den Flüchtigen. Auch hier ist die Lage angespannt. Es gibt nicht genug Leute. Niemand weiß, wie gefährlich die beiden sind. Die Hitze macht auch den Ermittlerinnen und Ermittlern zu schaffen. Franziska Tobler versucht, einen kühlen Kopf zu bewahren, das wiederum ärgert Berg, der ihr vorwirft, die Gewaltbereitschaft der Schwangeren zu unterschätzen. Die Stimmung der beiden scheint ohnehin nicht die beste zu sein. Man wird den Eindruck nicht los, dass Friedemann Berg es der Kollegin übel nimmt, dass sie sich um die Leitung des Kommissariats beworben hat.
Als dann auch noch ein kleiner Junge als vermisst gemeldet wird, liegen die Nerven endgültig blank – bei der Polizei, aber auch bei der Bevölkerung. Unter den Einheimischen formt sich ein Mob, der die angeblich gemeingefährliche Killerin Nina hinter Gittern sehen will.
Und spätestens jetzt macht sich auch beim Zuschauen ein gewisser Ärger breit. Weniger, weil die baden-württembergische Dorfbevölkerung hier wieder nicht besonders sympathisch rüberkommt (nach dem Stuttgarter "Tatort: Lass sie gehen" musste der SWR sich mit der Kritik erboster Komparsen auseinandersetzen, die gegen eine klischeehafte Darstellung rückständiger Dörfler protestierten). Sondern weil die Geschichte immer unglaubwürdiger wird.
Drehbuchautorin und Regisseurin Christina Ebelt beginnt "Die große Angst" in mehrfacher Hinsicht auf hohem Niveau. Aber der Versuch, aus großer Angst noch größere Angst zu machen, geht gründlich schief. Hier wird mit einer Verbissenheit immer weiter eskaliert, die eher lächerlich wirkt als brenzlig. Die Wut der Bevölkerung entsteht quasi aus dem Nichts. Svens Verhalten wird zunehmend unglaubwürdig, ebenso das Benehmen des Vaters des vermissten Jungen. Gerade noch schrecklich besorgt, verbringt er seine Zeit lieber Arme fuchtelnd in Kneipen, anstatt sich um seine Familie zu kümmern. Der Suchtrupp der Polizei ist dermaßen überfordert und inkompetent, dass man meinen könnte, bei dem zu durchsuchenden Waldstück handele es sich um unerforschten Amazonas-Dschungel: "800 Hektar, Steillage, um die 300 Meter Höhenunterschied!" Indiana Jones hätte es nicht dramatischer ausdrücken können. 800 Hektar – als Quadrat hätte diese Mördergrube eine Seitenlänge von drei Kilometern.
Was auch erklärt, dass Sven seinen Wagen auf einem Supermarktplatz stehen lassen und dann zurück zum Waldweg spazieren kann, wo er Nina tadelt: Die Wasservorräte müssen gut einteilt werden! Und am nächsten Morgen hüpft er mal eben aus dem Gebüsch und ist praktischerweise gleich am Haus seiner Anwältin. Die eigentlich auf Mietrecht spezialisiert ist und wahrscheinlich deswegen gegenüber Tobler und Berg vor lauter Aufregung so tut, als ob sie Bonnie und Clyde verteidigen muss.
Ach, Tobler und Berg... Das ständige Gekeife zwischen den beiden soll wohl auch die allgemeine Anspannung intensivieren, ist aber nur ermüdend – und empörend. Als Gipfel seiner schlecht gelaunten, ständigen Besserwisserei wirft Berg der Kollegin schließlich eine Unverschämtheit an den Kopf, für die er absolut gerechtfertigt eine Ohrfeige kassiert – aber es ist ausschließlich Franziska Tobler, die sich zerknirscht in Entschuldigungen ergeht.
In diesem "Tatort" ergibt wenig einen Sinn, handelt kaum jemand aus plausibler Motivation heraus. Da wundert einen auch der unbefriedigende Schluss nicht mehr. "Die große Angst" endet, als gäbe es einen zweiten Teil. "Die große Angst – jetzt noch größer"? Davor könnte man wirklich Angst haben.