Die Dynamik von Kasernierungs-Projekten, in denen Menschen außergewöhnlichen Lebensumständen ausgesetzt sind, verläuft oft nach einem ähnlichen Schema ab. Die Neugierde am Anfang wird recht schnell von einer Art Erlebnis-Euphorie abgelöst, mündet dann aber nach maximal einigen Tagen meist zunächst in einer Art Parallel-Realitäts-Ernüchterung.

Marie von den Benken
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Wenig Essen, wenig Schlaf, auf engstem Raum, mit zumeist unbekannten anderen, die aber gleichzeitig versuchen, durch ihr Verhalten den Charakteren so nahe wie möglich zu kommen, die sie der Öffentlichkeit gerne präsentieren würden. Ein Balanceakt zwischen Isolation und vollkommenem Exhibitionismus.

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Auf der einen Seite abgeschottet von Freunden, Familie, Nachrichten, Internet, Handy, Instagram und allen anderen Dingen, über die man im normalen Leben täglich 24 Stunden wie selbstverständlich kommuniziert, informiert oder diskutiert. Auf der anderen Seite beobachtet von zahllosen Kameras und – wenn es gut läuft – einem Millionenpublikum an den TV-Geräten.

Eine Situation, auf die man sich nicht wirklich vorbereiten kann und die in schöner Regelmäßigkeit für erstaunliche Momente sorgt, die von der einschlägigen Boulevard-Begleitpresse gerne mit "die Masken fallen" oder "zeigt sein wahres Gesicht" umschrieben werden.

So auch an Tag neun in der 2023er-Version von "Ehemals seicht prominente Nichtskönner begeben sich zum Zwecke der Reichweitenoptimierung und/oder Privatinsolvenzvermeidung in selbstverordnete Gruppen-Quarantäne".

Diesmal geht es um einen Obstkorb. Die zwischenzeitlich tagelang primär durch Haferflocken unterernährten Intelligenz-Klaustrophobiker erhalten zur Vitaminauffrischung einen Obstkorb, den die Raucher des Ensembles mittels eines (temporären) freiwilligen Totalverzichts auf Zigaretten für die gesamte Gruppe eropfert haben.

Mehr oder weniger subtil deuten die entzugsgebeutelten Raucher an, sie hätten eine Art Vorrecht auf die Obstgabe, da sie für die bloße Existenz des Fruchtcorpus Delicti unmittelbar alleinverantwortlich zeichnen, während die Nichtraucher etwa das zur Entstehungsgeschichte der sonderkulinarischen Zusatzverköstigung beigetragen haben, was Hubert Aiwanger zur Eindämmung des Antisemitismus in Deutschland beigetragen hat – nämlich gar nichts.

Niveau-Hausse im Promi-Haus

So eskaliert es zu Beginn des neunten Abends in der TV-JVA Köln-Bocklemünd langsam in Richtung Spontanschlägerei. Als Deeskalationsstrategie beginnen die wenigen besonnen gebliebenen Prominenz-Simulanten mit einer Art Container-Tinder.

Yeliz Koc beispielsweise testet subtil die Family-Man-Qualitäten von Discounter-Brad-Pitt Ron Bielecki mit der Frage, ob er sie daten würde und wie er zu Frauen mit Kind steht. Die Antwort jedoch stellt Yeliz, die bereits freimütig zu erkennen gab, durchaus aktiv auf der Suche nach dem Mann ihres Lebens zu sein, nur bedingt zufrieden.

Bielecki, der Tornado-Säufer aus Berlin, würde sie "zwar daten, aber keine Beziehung haben wollen". Enttäuscht streichen die mithörenden Gossip-Redakteure zu Hause an den Endgeräten "Traumpaar Reliz" wieder aus ihren Notizblöcken.

Manuela Wisbeck beichtet derweil, mal auf eine Heiratsschwindlerin hereingefallen zu sein und viel Geld verloren zu haben. Aus feministischer Sicht stellt man beruhigt fest: "The Tinder Swindler" funktioniert auch vice versa. Für alle intelligenzkeuschen Vordenker und die UN, die den Austausch einer entführten neunjährigen Jüdin gegen drei für Terroranschläge verurteilte Verbrecher als "Geiselaustausch" deklarieren, hier kurz ein Disclaimer: Vice versa ist keine neue Popgruppe aus Finnland, sondern der lateinische Begriff für "umgekehrt".

Anschließend wird darüber philosophiert, wie es wohl für Iris Klein und Peter Klein sein muss, mit seinem Ex-Mann respektive seiner Ex-Frau in diesem Container eingepfercht zu sein. Und da Vergleiche mit dem eigenen Leben immer am schnellsten funktionieren, sinniert Yeliz darüber, was wäre "wenn Jimi jetzt hier wäre".

Da will Paulina Ljubas nicht nachstehen und ergänzt: "Oder stell dir mal vor, Henrik." Das Thema ist aber schnell weggefrühstückt, denn die beisitzenden Mitprominenten wissen: "Der ist ja jetzt schwul". Grüße an Henrik Stoltenberg an dieser Stelle.

Regenbogenmotiviert durcheuphorisiert gesteht Yeliz noch schnell: "Ich hatte auch mal was mit einer Frau!", aber dann geht es auch schon zurück zur Tagesordnung. Dort auf dem Plan: Vergangenheitsbewältigung. Dilara Kruse ist immer noch emotional hochgepusht durch den Kurzbesuch ihres Mannes Max Kruse am Vorabend.

Teamplayer Paulina ist gerührt: "Dilara so glücklich zu sehen, hat mich auch glücklich gemacht." Klingt publikumswirksam, es schwingt aber natürlich auch ein bisschen die Hoffnung mit, morgen würde vielleicht Tommy Pedroni den Einkauf im Container-Discounter erledigen. Ich glaube, das ist ein Kaufland.

Showdown am Videorekorder

Peter Klein hat ganz andere Probleme. Er sieht sich aus besetzungsarithmetischen Gründen gezwungen, zu Peter, dem Taktiker zu werden: "Iris ist hier, das hatte ich mir natürlich nicht gewünscht, aber ich halte mich zurück. Es macht keinen Sinn, hier Beef zu machen und dann setzen mich die Zuschauer auf die Nominierungsliste."

Hobbykomiker Ron Bielecki gelingt daraufhin ansatzlos der absolut beste Gag der Staffel: "Ich sitze ja daneben und ich bin ja auch nicht auf den Kopf gefallen." Ja, so habe ich auch geguckt. Das war dann aber auch schon das Spektakulärste der vergangenen 24 Stunden.

Es wird immer offensichtlicher, dass sich die geistige und körperliche Spritzigkeit bei den durch exzessiven Zigaretten- und Kalorienentzug gebeutelten Niveau-Inhaftierten inzwischen etwa auf das Level eines Orcas in der Wüste Gobi eingependelt hat. Entsprechend träge entwickelt sich das in der Theorie ausreichend vorhandene Explosions-Potenzial.

Um das Eskalationslevel trotz der latenten Schläfrigkeit der Container-Reisegruppe wieder skandalsicher anzukurbeln, ruft der Sat.1-Beauftragte für Fäkalsprachen-Provokation zum Showdown zwischen Jürgen Milski und Paulina Ljubas am WG-Fernseher.

Sie erinnern sich: Milski hatte Paulina "Suppenhuhn" und "aus einem Bums-Format kommend" diskreditiert, Paulina ihn als charakterlosen alten Mann bezeichnet. Jetzt führt Big Brother den beiden ihre schlimmsten Aussagen über den jeweils anderen per Video vor und hofft auf hochbrisante Reaktionen.

Die dramaturgisch fest eingeplanten Szenen einer dysfunktionalen Ehe bleiben allerdings aus. Die Gemeinheiten-Gala läuft zivilisierter ab, als Sat.1 sich das vermutlich vorgestellt hatte. Jürgen und Paulina sprechen sich aus und verzeihen sich.

Kurz befürchtet man, beide lassen sich spontan Freundschafts-Tattoos stechen. Selbst dem Comedy-Duo an der Moderations-Seitenlinie, Jochen Schropp und Marlene Lufen, ist der Schock über den spektakulär gescheiterten Harmoniemanipulationsversuch anzusehen.

Was ist nur aus dem Krawall-Format vergangener Staffeln geworden? Die mit Abstand größten Streithähne säuseln sich selbstkritische Sätze wie: "Es hat keine 26-Jährige geredet" oder "Es hat auch kein erwachsener Mann geredet" ins Ohr.

Trash-Neurotiker Jürgen Milski schwärmt am Ende sogar von Paulina: "Ich denke nicht, du bist dumm. Im Gegenteil, ich denke, du bist sehr intelligent!" Das ist ein bisschen, wie Alice Weidel und Robert Habeck neun Tage in eine Wärmepumpe einzusperren und dann spielen die beiden den ganzen Abend Halma und erzählen sich, wie sehr sie ihre politischen Überzeugungen schätzen.

In der Chefetage bei Sat.1 ist man verwirrter als Thomas Gottschalk, wenn er aufzählen soll, was er alles nicht mehr im deutschen Fernsehen, sondern nur noch zu Hause sagen darf.

Das "D" in Jürgen steht für "Du kannst nach Hause fahren"

Durch einen nach der bisherigen Bilanz in der Spiele-Arena historisch eher überraschenden Sieg im Schleim-Ballon-Spiel sind Matthias Mangiapane und Marco Strecker für die anschließende Live-Nominierung gesichert.

Alle anderen können sich munter gegenseitig das Ausreise-Ticket verleihen. Dabei nominiert Iris überraschend Jürgen. Als Begründung, wieso sie nicht Peter auf die Abschussliste verfrachtet, verrät sie, sie würde Peter aus Prinzip nicht nominieren.

Auf Rückfrage, ob das ein neues Prinzip wäre, antwortet sie: "Sowohl als auch." Eine Legendenantwort. Zielsicher angelaufen. Formschön vollendet. Schöner wäre nur noch gewesen, wenn sie auf die Frage, ob sie gerne Leberwurst isst, geantwortet hätte: "Gelb."

Umgekehrt nominiert auch Peter nicht Iris. Aha. Was ist da los? Ein Hauch von Cordoba weht durch das Sprechzimmer-Stadion. Am Ende ergibt sich aus den elf aktuell noch im Haferflocken-Paradies logierenden Stimmen eine Nominierungs-Mehrheit für Ron und Jürgen, durch die am Ende Jürgen Milski per Zuschauer-Entscheid den Container verlassen muss.

Damit ist das heutige Exit-Trauma für die verbliebenen Top Ten allerdings noch nicht ausgestanden. Der neue Container-Chef Matthias Mangiapane muss die Entscheidung treffen und drei Vollzeitselbstdarsteller nominieren.

Nach seinem Gewinner-Auftritt in der Schleim-Arena noch immer in hocherotische Pyjama-Couture gehüllt, entscheidet er sich in einem dramatischen Showkampf mit sich selbst für Ron, Iris und Dominik Stuckmann.

Paulina hatte eine ähnlich makabre Vorgehensweise der knallharten Regelmacher bereits vermutet: "Die versuchen uns richtig zu ficken." Andererseits: mit Beischlaf-Varianten während laufenden Reality-Formaten kennt sich Paulina ja aus. Ob das reicht, um auch weiterhin im Container bleiben zu dürfen, das verrate ich morgen. Bis dann!

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