Heute feiert einer der wichtigsten österreichischen Filmemacher seinen 75. Geburtstag: Michael Haneke, der die Kinowelt mit Provokationen wie "Funny Games" schockierte und auch sonst mit seinen Filmen immer dorthin blickte, wo es wehtut. Aber wie hat es dieser vielfach ausgezeichnete Regisseur geschafft, sein Publikum immer wieder so nachhaltig zu verstören?
Eine gefesselte Frau richtet sich mühsam vom Boden ihres Wohnzimmers auf. Neben ihr liegt ihr Sohn, der gerade erschossen wurde. Aus dem blutbespritzten Fernseher dröhnt die lärmende Übertragung eines Autorennens. Die Frau bewegt sich unter immenser Anstrengung zu ihrem Mann, der etwas weiter entfernt liegt und noch lebt. Es ist eine endlose Einstellung, in der der Zuseher nie von einem Schnitt erlöst wird.
Keine Frage: Die filmische Welt von Michael Haneke ist kein angenehmer Ort. In "Funny Games", aus dem die obige Szene stammt, quälen zwei Wahnsinnige eine Familie im Urlaub grundlos bis zum Tod. In seinem ersten Kinofilm "Der siebente Kontinent" begeht eine Familie einen lang geplanten Selbstmord und zerstört vorher systematisch ihr komplettes Hab und Gut. Und sonst? Grausamkeiten, Entfremdung, Amokläufe, unausgesprochene Bedrohungen, der Weltuntergang.
Der Zuseher als Komplize
Wie kein zweiter versteht es der österreichische Regisseur, sein Publikum zu verstören, es in tiefe Abgründe hineinblicken zu lassen, ohne ihm am Schluss erlösende Antworten zu geben. "Alle meine Filme sind als Reaktion auf das gewöhnliche Konsumkino entstanden, das uns vorlügt, alles geht gut aus", erklärte Haneke im Gespräch mit den Filmjournalisten Michel Cieutat und Philippe Rouyer.
Es sind nicht unbedingt die Themen, die Haneke anpackt, die den Zuseher so verunsichert zurücklassen und ihn tagelang verfolgen können – es ist die Art und Weise, wie er sein Publikum anspricht, wie er es beinahe zur Komplizenschaft zwingt. Für Haneke hat das, was auf der Leinwand zu sehen ist, unbedingt etwas mit der Person zu tun, die davor sitzt. Kein Wunder, dass so viele seine Filme fast kategorisch ablehnen.
Am stärksten macht er das in "Funny Games": Er bestraft den Zuseher dafür, sich überhaupt für die Thriller-Prämisse der Familie in der Gewalt von Psychopathen zu interessieren. Der Film ist wie Milgrams berühmtes Gehorsamkeitsexperiment: Haneke schaut, wie lang er den Zuseher dranhalten kann – und gibt ihm zur Belohnung nur das nihilistische Nichts. "Wer den Film bis zum bitteren Ende gesehen hat, der hat's verdient", meinte er dazu. "Niemand ist gezwungen, im Kino zu bleiben."
Die Schuldfrage
Diesen Zusammenhang zwischen Gewalt und der Faszination des Publikums für eben jene Gewalt hat er immer wieder untersucht. In "Benny's Video" erzählt er von einem Jungen, der die Welt nur über die Videokamera wahrnimmt – und schließlich ein Mädchen tötet, weil er wissen will, wie sich das anfühlt. Als er seinen Eltern den Mord beichtet, zeigt er ihnen einfach ein Video der von ihm mitgefilmten Tat.
Die Geschichte mündet in eines von Hanekes anderen großen Themen: das der Schuldfrage – beziehungsweise des Vertuschens der Schuld. Die Eltern sorgen dafür, dass der Mord unter den Teppich gekehrt wird. Belohnt werden sie damit, dass der Junge ein Video ihres Gesprächs, wie sie die Leiche entsorgen können, zur Polizei bringt.
Auch in "Caché" geht es um eine begrabene Schuld: Ein Fernsehmoderator erhält mysteriöse Videos, auf denen er und seine Familie heimlich beobachtet werden, und die möglicherweise etwas damit zu tun haben, dass er als Kind Lügen über einen anderen erzählt hat. Ebenso steht in "Das weiße Band" eine Schuldfrage im Zentrum: In einem kleinen Dorf passieren immer wieder Unglücksfälle und Übergriffe, die offenbar als Bestrafung gedacht sind.
Die Rätsel, die diese Filme aufwerfen, werden nie gelöst. Sowohl in "Caché" als auch in "Das weiße Band" werden die aufgeworfenen Fragen nicht geklärt, der Zuseher bleibt mit der Ungewissheit zurück, dass alles so oder ganz anders sein könnte. "Filme neigen oft dazu, alles zu erklären", meinte Haneke zu dieser Ambivalenz. "Ich finde das langweilig."
Banale Bilder des Schreckens
Die Verstörung des Publikums steigert Haneke auch mit seinen Inszenierungsmethoden. Immer wieder bricht er die vierte Wand zum Zuseher, stellt die Künstlichkeit seiner Filme aus. In "Funny Games" zwinkert einer der Täter einmal direkt in die Kamera, später kann sogar ein Teil der Handlung zurückgespult werden – nur, um das grausame Spiel mit der Hoffnung noch ein bisschen zu verlängern.
Selbst, wenn Haneke weniger experimentell erzählt, bleiben seine Bilder von beklemmender Intensität. Es sind starre, strenge Kompositionen, aus denen es kein Entkommen zu geben scheint. In "Der siebente Kontinent" zeigt er die Familie am Frühstückstisch, ohne ihre Gesichter zu zeigen – stattdessen sieht man immer nur Nahaufnahmen all ihrer Gegenstände und Maschinen. Es ist eine schreckliche Aneinanderreihung von Alltagsbanalitäten.
Oft genug zeigt er die Grausamkeiten gar nicht direkt: Der Sohn wird in "Funny Games" erschossen, während einer der Täter in der Küche ist. Der Mord in "Benny's Video" passiert knapp außerhalb des gefilmten Bildausschnittes. Auch in "Das weiße Band" findet eine Züchtigung nur hinter verschlossener Tür statt – wir hören nur die Geräusche. "Es ist immer besser, die Einbildungskraft des Zuschauers arbeiten zu lassen, als ihm Bilder aufzuzwingen", erklärte Haneke. "Bilder sind vergleichsweise banal."
Nicht einmal durch die Musik kann der Zuseher Sicherheit erhalten, wie er es durch das Mainstream-Kino gewohnt ist: Dort führt der Score oft durch eine Szene, die durch die Musik entsprechend traurig oder bedrohlich wird. In Hanekes Filmen herrscht Stille, der Zuseher ist mit der Interpretation der Geschehnisse alleine gelassen. Manchmal kommt aus dem Radio oder aus dem Fernseher Musik – oder eine wunderschöne Opernarie wird plötzlich durch die Lärmattacken des Avantgardemusikers John Zorn zerfetzt.
Ein notwendiger Moralist
Es überrascht kaum, dass Haneke für seine ganz eigene filmische Herangehensweise oft scharf kritisiert wird. Seine Medienkritik ist in allen Belangen so beißend inszeniert, dass sie fast aufdringlich offensichtlich wird – und gleichzeitig hat man oft das Gefühl, als Zuseher erzogen zu werden. Haneke hat nicht einmal etwas dagegen, als Moralist zu gelten – aber er besteht darauf, keine Antworten zu kennen. Vielleicht kommt die Vehemenz daher, dass er die Themen als so wichtig ansieht.
Egal, wie man zu Hanekes Werken steht: Es gibt in der Filmlandschaft keine zweite Person, die so inszeniert wie er, und es gibt niemanden, der so wagemutig dorthin blickt, wo es wirklich wehtut. Er ist ein Regisseur mit eigener Handschrift und eigenen Gedankenansätzen – und das ist im Kino sehr selten.
"Für mich sind Hanekes Filme notwendige Filme", erklärte Schauspielerin Juliette Binoche. "Von Zeit zu Zeit sollte man sie sich ansehen. Aber sicher nicht immer."
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.