Auf "Love Island" geht das übliche gut gebräunte, außerordentlich trainierte und mental nicht allzu sehr abgelenkte Reality-Personal auf Liebesurlaub. Das ist so gut wie Shakespeare. Findet zumindest die Unterhaltungschefin von RTL II.
"Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleuder
Des wütenden Geschicks erdulden oder,
sich waffnend gegen eine See von Plagen,
durch Widerstand sie enden? Sterben - schlafen - nichts weiter!"
Kommen Ihnen diese Zeilen bekannt vor? Das sollten sie, sie sind einige der berühmtesten der Literaturgeschichte. Hamlet, 3. Aufzug, 1. Szene, William Shakespeare. Die Frage ist bloß: Was haben die in einem Artikel über eine Trash-TV-Dating-Show zu suchen?
Beide Werke sind quasi identisch. Das erklärte zumindest Shona Fraser, die Unterhaltungschefin von RTL II, gerade in einem Interview mit dem Branchenmagazin DWDL. Auf "Love Island" gehe es wie in den Dramen des britischen Autors zu: "Die vermeintlich große Liebe, noch größeres Drama, Missgeschicke und immer wieder unerwartete Wendungen", so Fraser.
Wenn Sie das nicht zu würdigen wissen: Herzlichen Glückwunsch!
Teilnehmer haben so Bock auf "Love Island", dass der Schweiß läuft
Laut der RTL II Unterhaltungschefin sind Sie demnach zwar "arrogant", gehören aber zumindest zum Bildungsbürgertum. Das ist doch schon mal was.
Und wie würden die unsterblichen Worte Shakespeares demnach klingen, wenn er noch leben würde, zum Beispiel auf einer Insel, auf der es mehr Tattoos als Verstand gibt? "Ich hab so Bock auf 'Love Island', dass mir der Schweiß läuft." Das ist wirklich eins zu eins Shakespeare.
Kurz zu den Koordinaten, in denen wir uns bewegen: Auf Mallorca geht das übliche gut gebräunte, außerordentlich trainierte und mental nicht all zu sehr abgelenkte Reality-Personal auf Liebesurlaub. Eine Art "Der Bachelor" trifft "Big Brother" trifft "Das Sommerhaus der Stars". Nur eben ohne Stars. So wie im Sommerhaus auch.
In England ist "Love Island" ein echter Hit, die Show erhielt sogar einen der begehrten BAFTA TV Awards, in Deutschland gibt es glücklicherweise keine passende Kategorie.
Erfolgreich ist "Love Island" auch hierzulande, das tägliche Format wurde mit der dritten Staffel auf vier Wochen verlängert. 300 Mitarbeiter in Mallorca drehen und schneiden im Akkord, es gibt ein Dauerfeuer auf allen Social-Media-Kanälen, die Zuschauer können über die Kandidaten mit abstimmen, selbst eine eigene Musik-Playlist auf den Streaming-Kanälen ist zum Start abrufbar.
"Das ist zeitgemäßes Fernsehen", sagt Shona Fraser. Arrogantes Bildungsbürgertum hin oder her: Damit hat sie leider recht.
Dating-Shows sind billiger als Serien
Während auf der einen Seite Streaming-Anbieter wie Netflix und Amazon Prime eine teure Serie nach der anderen produzieren, senden die TV-Stationen Dating-Shows am Fließband: "Match Factor", "Paradise Hotel", "Take Me Out", "Naked Attraction", die diversen Ableger des "Bachelors" - das ist billig produziert, bringt Quote und funktioniert immer nach dem gleichen Rezept.
Man nehme Menschen mit einer überproportional entwickelten Libido, die vor allem sich selbst lieben, sperre sie mit Ihresgleichen über einen Zeitraum X mit viel alkoholischen Getränken ein und filme sie dabei, wie sie übereinander herfallen. Sowohl verbal als auch körperlich. Voila, fertig ist das "zeitgemäße Fernsehen".
Bei "Love Island" sieht das dann so aus: In Folge eins treffen Männer auf Frauen und müssen sich in der sogenannten "Paarungszeremonie" (kein Scherz) für eine von ihnen entscheiden. Die Kriterien sind: "Weil ich ihre Augen und Frisur schön finde."
Ob die Betreffende will oder nicht, ist nebensächlich. Potenzielle Abneigungen erstickt das Format, indem jeder rausfliegt, der am Ende der Folge keinen Partner hat. Die Unterschiede sind sowieso marginal.
Yasin entscheidet sich zum Beispiel für Lisa, lässt sie direkt danach links liegen und umgarnt "die mit den Locken". Muss Polyamorie schön sein. Melissa will Daniele, bekommt stattdessen aber Eric. Und der ist blond. Weshalb sie direkt in der ersten Folge weint.
Eine Dating-Show ist eben wie Weihnachten bei Mutti. Man hofft und hofft und hofft - und packt am Ende doch wieder die dicken Wollsocken statt des Smartphones aus.
Arroganz, Narzissmus und der ein oder andere Versprecher
So geht das immer weiter. Im Laufe der Folgen wechseln die Paare durch und kommen sich in mehr oder weniger expliziten Partyspielen näher. Um den Hormonstau weiter zu erhöhen, erscheinen immer neue Singles auf der Insel.
In Zeiten von Tinder weiß schließlich jeder: Hinter der nächsten Palme könnte immer noch jemand stehen, der etwas Kleidung nennt, was selbst die Chippendales frösteln ließe. Wie zum Beispiel Danila, der vergessen hat, das Hemd seines Anzuges einzupacken: "Auf einer Skala von eins bis zehn bin ich eine elf."
Der vermeintliche Unterhaltungswert abseits der gestählten Körper und ihrer erwartbaren Interaktionen entsteht im Wechselspiel aus Arroganz, Narzissmus, Versprechern und einem leicht spöttischen Ton, in dem der Sender das Gesehene im Stil des Dschungelcamps kommentiert: "Haben Sie Lust auf ein pädagogisch wertvolles Spiel? Nein, wir auch nicht." Um dann in den volltrunkenen Teenager-Party-Klassiker "Wahrheit oder Pflicht?" überzuleiten.
Lustig oder auch nur unterhaltsam ist das leider in den seltensten Fällen. Zwischen den Gagschreibern von "Ich bin ein Star, holt mich hier raus!" und denen von "Love Island" oder auch "Promi Big Brother" liegen eben immer noch Welten.
"Ich bin nicht so dumm wie ich aussehe"
Mitleid muss trotzdem niemand mit den Teilnehmern haben, die sich auf "Love Island" "couplen", eine Wortschöpfung, die jedem Zuschauer mit ein wenig Gefühl für Sprache Schauer quer durch den Duden jagt.
Die Kandidaten wissen ganz genau, worauf sie sich einlassen und welche Klischees sie erfüllen (sollen). Das Muskelpaket Mischa fragt zum Beispiel seine Angebetete sofort: "Was denkst du bei mir? Fuckboy? Puffgänger?" Nicht gerade der gängigste Einstieg in einen Smalltalk. Um dann wenig später hinterzuschieben: "Ich bin nicht so dumm wie ich ausseh. Ich bin Bürokaufmann."
Wer hier wen ausnutzt, hält sich die Waage. Der Sender bedient die erwartbaren Klischees der dolldoofen Muskel- und Extension-Fanatiker. Die Teilnehmer an "Love Island" nutzen die Show, um ihre Social-Media-Kanäle zu pushen.
Die letzte Bachelorette Gerda Lewis beispielsweise konnte ihre Follower innerhalb von zwei Monaten versechsfachen - 850.000 Menschen beobachten jetzt jeden Tag, wie sie ihren inszenierten Alltag verbringt. Dass das nicht jedem gefällt, ist einkalkuliert.
Die eine Hälfte der Zuschauer liebt das primitive Gebalze, die andere findet es so schrecklich, dass es sie wieder amüsiert - am Ende schalten beide ein. Eine Win-win-Situation für den Sender.
So hat "Die Bachelorette" in diesem Jahr den höchsten Marktanteil seit Bestehen der Show erzielt. Und so wird auch die dritte Staffel von "Love Island" wieder Rekordquoten für den Sender einfahren. Gute Unterhaltung ist das aber natürlich trotzdem nicht. Bildungsbürger hin oder her.
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