Andreas Darsow soll zwei seiner Nachbarn kaltblütig ermordet haben. Zumindest urteilte das Gericht 2011 so. Die Podcasterinnen Leonie Bartsch und Linn Schütze zweifeln jedoch an seiner Schuld und haben den "Doppelmord von Babenhausen" noch einmal für die TV-Zuseher aufgedröselt. Sie sprechen erstmals mit dem Verurteilten, aber auch mit dessen Ehefrau, Gutachtern und Sachverständigen, dem Ex-Pizzaboten und Ex-Friseur der Opfer sowie einem ehemaligen Rocker. Das Ergebnis der Recherche? Naja!
Leonie Barsch und Linn Schütze haben schon unzählige Kriminalfälle diskutiert und thematisiert. Der Fall rund um Andreas Darsow hat es den beiden Podcasterinnen und Journalistinnen aber besonders angetan. Darsow wurde am 19. Juli 2011 im "Doppelmord von Babenhausen"-Fall in einem Indizienprozess vom Landgericht Darmstadt wegen zweifachen Mordes verurteilt. Und das zu einer lebenslangen Haftstrafe. Darsow soll das Nachbar-Ehepaar Klaus und Petra Toll erschossen und dessen damals 37-jährige und geistig behinderte Tochter Astrid Toll, die schwer verletzt überlebte, angeschossen haben. Bartsch und Schütze haben an der Schuld Zweifel und wollen schon im Zuge ihrer Recherche für einen Podcast auf angebliche Ungereimtheiten gestoßen sein. Diese versuchten sie am Dienstagabend im ProSieben-Format "Unschuldig im Gefängnis? Der Fall Andreas Darsow" darzustellen.
"Tierische Laute" im Nachbarhaus
"Dieser Film ist eine Suche nach der Wahrheit. Es ist unsere Geschichte, unsere Recherche", lassen uns die beiden Damen darin zu Beginn erstmal wissen. Die Tolls und die Darsows lebten in direkt nebeneinander liegenden Reihenhäusern im südlich von Frankfurt gelegenen Babenhausen. Bis zum Jahr 2006 waren hier US-Soldaten stationiert. Die Stadt im südhessischen Landkreis Darmstadt-Dieburg galt bis dahin als größtes Bordell Hessens und fetter Umschlagplatz für Drogen – betrieben von Rockerbanden und der Mafia.
Wegen finanzieller und persönlicher Probleme kam es laut Gericht häufig zu Geschrei, Türenknallen und Gepolter im Hause der Familie Toll, die an sich überaus zurückgezogen lebte. Mutter und Tochter gaben laut Gericht "undefinierbare, fast tierische Laute von sich". Als seine Frau mit den Kindern bei einem mehrtägigen Verwandtenbesuch war, habe Darsow dann die Lärmverursacher getötet, so die amtliche Formulierung. Die Darsows bestätigten Lärm und Probleme, relativieren aber: "Jahrelange Streitigkeiten, die uns unterstellt werden, hatten wir mit den Nachbarn nicht", so Andreas Ehefrau Anja Darsow heute. Motiv sei das für sie keines.
Recherche vor Ort
Rund ein Jahr nach dem Doppelmord und vier Wochen nach der Geburt seines dritten Kindes wird Andreas Darsow verhaftet. "Manchmal könnte ich einfach nur weglaufen und schreien", sagt Anja Darsow heute. Auch ihren Mann können Bartsch und Schütze erstmals interviewen. "Was kann ich machen, damit es der Familie und mir gutgeht?", ist für diesen die heute relevante Frage, um mit dem Status-quo halbwegs fertigzuwerden. Richter und Staatsanwaltschaft wollen sich für "Unschuldig im Gefängnis?" nicht mehr äußern, da dies eine Gefährdung der Resozialisierung des Täters bewirken könne, lassen sie ausrichten. Die Anfragen der Podcasterinnen gehen also ins Leere.
Doch kein Grund für die beiden, sich nicht in Babenhausen einzuquartieren. Dort lässt sich im Dienste der Zuseher ganz gut der Sache ein weiteres Mal auf den Grund gehen. Und so sieht man sie abends im Doppelzimmer auf dem Hotelbett über den Fall diskutieren. Schauspielerinnen werden die beiden in diesem Leben zwar keine mehr, dafür sind sie aber echte Glückspilze. Ganz zufällig hat ihnen jemand nämlich anonym die gesamten Ermittlungsunterlagen von damals – rund 3.000 Seiten – ins Hotel geschickt.
"Tierische Laute" nur im Gericht?
Für Bartsch und Schütze besonders relevant: Tatwaffe und DNA vom Täter wurden am Tatort nie gefunden. Andreas Darsow wurde somit aufgrund einer Indizienkette verurteilt, ob einer Summe von Beweisanzeichen gleichsam. Eines davon: das Motiv "andauernde Lärmbelästigung". Dass der Terminus "tierische Laute" von keinem einzigen Zeugen je in den Mund genommen wurde, sondern laut Recherche der beiden Journalistinnen vom Richter kamen, der solche während des Prozesses vormachte, irritiert Schütze und Bartsch völlig zurecht. "Das war hochsuggestiv", sagt auch Christoph Lang, einstiger Darsow-Verteidiger, über die richterlichen Geräusche. "Da ist übertrieben und zu einer konstanten, dauerhaften und unaushaltbaren Sache gemacht worden", meint der Verurteilte heute über den Lärm der Tolls nebenan. Fazit: Das Motiv ist somit auch für Bartsch und Schütze, die offenbar auch ganz gern "Tatort" schauen und auf irgendeiner Landstraße die auf dem Dach ihres Autos platzierten Unterlagen lässig diskutieren, nicht mehr schlüssig. Aufgesetzten Dissens gibt's im Auto aber keinen.
Dass man für einen angeblich mit einer PET-Flasche und Bauschaum selbstgebastelten Schalldämpfer im Grunde zu wenige Bauschaum-Partikel am Tatort entdeckte, stört Bartsch und Schütze übrigens ebenso. Zumindest laut einem Gutachter hätte man mehr davon und obendrein auch Plastikpartikel finden müssen. Immerhin fielen zehn Schüsse damals.
Lesen Sie auch: Der Fall Tannöd: Wer beging den sechsfachen Mord in Hinterkaifeck?
Google-Suche nach Schalldämpfer-Bauanleitung
Ein besonders spannendes Indiz: Zwei Monate vor der Tat wurde unter Darsows Benutzerkennung in dessen Firma "Schalldämpfer für Waffe Wasserflasche" gegoogelt. Der dann auch angeklickte Link führte doch glatt zu einer Anleitung zum Eigenbau eines Schusswaffenschalldämpfers mittels Bauschaum und PET-Flasche, die schließlich auch noch ausgedruckt wurde. Die Reporterinnen kritisieren hier, dass seitens der Ermittelnden diesbezüglich nie in die Tiefe recherchiert wurde. "Hat jemand diesen Account fremdverwendet? Da muss man natürlich nach zusätzlichen Beweisen und Daten suchen", bekommen sie Unterstützung von Dirk Labudde, Leiter der IT-Forensik an der Hochschule von Mittweida. Der Systemadministrator, mit dem sich die Polizei wohl mehr befassen hätte sollen – natürlich auch deshalb, weil er sich privat angeblich für Waffentechnik interessierte – habe laut Darsow heute Angst, "weil er mitbekommen hat, wie es mir damals ergangen ist", so der Verurteilte. Mit Bartsch und Schütze wollte er also nicht sprechen.
Auch die Schmauchspuren an Bundeswehrhemd- und hose sowie den Gartenhandschuhen und dem Pulsmesser überzeugen die Reporterinnen nicht. Sandra Nießing, Sachverständige für Schmauchspuren, übrigens genauso wenig. Laut ihr sei Schmauch als Indiz eher untauglich. "Ob jemand tatsächlich geschossen hat, kann eine Schmauchanalyse nicht zweifelsfrei beantworten", fasst Nießing es zusammen und wird dann noch richtig plastisch: "Wenn ich Mehl an den Händen habe, kann jemand anderes nicht feststellen, ob ich selber gebacken oder einem Bäcker die Hand gegeben habe." Fällt ein Indiz weg, reißt die Kette, so die einhellige Meinung der Kritiker des exakt 288 Seiten langen Urteils.
Künftiges Opfer auf Waffensuche
Dass Opfer Klaus Toll einst in seinem privaten wie beruflichen Umfeld immer wieder Personen gefragt hat, wo er eine Schusswaffe herbekommen würde, bestätigten gleich mehrere Personen, darunter auch einige seiner Kunden und ein Internetdienstleister, der für Tolls Immobilien-Website arbeitete. Selbst den damaligen Pizzaboten sowie den einstigen Friseur der Opfer interviewten Bartsch und Schütze im Zuge ihrer Recherche. "Er war mitunter schon mal aufbrausend", erklärt Letzterer. Vom Ex-Pizzaboten lernen wir, dass die Küche der Tolls so gut wie unbenutzt war.
Irgendwann im Laufe der Sendung werfen Bartsch und Schütze zunächst die Theorie vom erweiterten Suizid, also Mord mit anschließendem Selbstmord, auf. Einer ihrer Gründe für diese: Die langjährige Zahnärztin der Tolls äußerte, dass Toll depressiv gewirkt haben soll und seine Frau und Tochter krank gewesen seien. Dann die nächste Theorie der Podcasterinnen am Dienstagabend: Jemand wollte Toll aus dem Weg räumen oder sich rächen. Es wird etwas unübersichtlich.
Der Grund für diese zweite Theorie: Schütze und Bartsch bekamen Hinweise, dass sich das Opfer vor der Tat bedroht gefühlt habe – angeblich von Leuten aus der Rockerszene wegen des Kaufs und Wiederverkaufs eines Grundstücks. Ein Hinweis stammte dabei von einem Ex-Rocker, den die beiden für ihr Format auch vor die Kamera bekommen. Laut ihm sei Toll längere Zeit vor der Tat gestresst und "mit seinem Latein am Ende" gewesen. Der Ex-Rocker deutete sein damaliges Gespräch mit Toll heute so, dass er jemanden für diesen umbringen hätte sollen. "Aber er hat auch viel dummes Zeugs geredet", so der Mann, der nicht erkannt werden wollte, weiter. Das Gericht schloss sich damals der Einschätzung der Mehrheit an: Toll habe sich nur aufspielen wollen.
Zivilgericht: Keine erneute Beweisaufnahme
Bartsch und Schütze dröseln am Dienstagabend den Fall feinsäuberlich auf, können dabei aber mit ihren Zeugen, die häufig vage bleiben, nicht wirklich überzeugen. Dass nach den Zweifeln an den einzelnen Gliedern der Indizienkette, die von Gutachtern und anderen Experten aber durchaus auch geteilt werden, so ganz beiläufig etwa die "Erweiterter Suizid"-Theorie aufgeworfen wird, geht schon ins Hochspekulative. Dass man für das eigene Format Ex-Friseur und Ex-Pizzaboten der Opfer ausmachen konnte, ist wiederum löblich, letztlich aber auch nur dann sinnvoll, wenn deren Ausführungen auch Relevantes beinhalten.
Das Zivilgericht hat sich übrigens in diesem Jahr gegen eine erneute Beweisaufnahme entschieden. Womöglich aus Gründen gar. Sollte Andreas Darsow jedoch nicht der Mörder sein, so würde er seit nunmehr zwölf Jahren unschuldig im Gefängnis sitzen. Auch das hat es bereits gegeben.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.