Die Erkenntnis der Woche, dafür muss man keine Marktforschungsinstitute beauftragen, lautet: Offene Briefe sind so en vogue wie nie zuvor. Dazu kommt die Frage: Ist Fynn Kliemann, der putzige, leicht verpeilte Sinnfluencer, womöglich doch nicht bis zur Unterkannte seines cuten Surferboy-Images ein um nichts anderes als Wohltätigkeit besorgter Vater Theresa? Und dann natürlich der intellektuelle Spagat der Scheinheiligkeitskämpfer im Libertär-Morast des Dilemmas: Sollten russische Tennisprofis vom Turnier in Wimbledon ausgeschlossen werden? Sie sehen schon: Das wird ein rasanter Rückblick. Monothematisch war gestern. Diese Woche war ein Füllhorn der Absurditäten. Und da ist Sahra Wagenknecht noch gar nicht mit eingerechnet.
Aber mal der Reihe nach: Die Organisatoren des vermutlich berühmtesten Tennis-Events der Welt, dem Turnier in Wimbledon, haben aufgrund der fortschreitenden Völkerrechtsverletzungen Russlands entschieden, dass russische Sportler den heiligen englischen Rasen des Londoner Elite-Tournaments dieses Jahr nicht betreten dürfen.
Nun ist es so, dass die wenigsten russischen Tennisprofis gleichzeitig militärische Entscheidungen in der russischen Regierung treffen oder zum engsten Beraterkreis Putins in kriegstaktischen Strategiesitzungen gehören. Die Entscheidung führte daher umgehend zu vehementen Entrüstungsbekundungen quer durch alle meinungsintensiven Kommunikations-Lager.
Von den dauerempörten Echauffierungs-Katalysatoren der AfD, die sich traditionell eher auf russischem Boden wohl fühlen als auf demokratischem, über eine Menge Profi-Kollegen wie
Klar, der einzelne Tennisprofi aus Russland hat weder den Krieg gegen die Ukraine befohlen, noch hatte er vor, mit einem "Putin Forever" Shirt auf dem Wimbledoner Grün den Filzball-Festspielen seinen Stempel aufzudrücken. Dennoch halte ich den Ausschluss für alternativlos. Das Argument, Sportler könnten ja nichts dafür und würden jetzt grundlos an der Ausübung ihres Jobs gehindert, ist an Scheinheiligkeit kaum noch zu überbieten.
Wo war der Ruf nach Trennung von Job und Nationalität beim Ausschluss russischer Fußballprofis von der WM 2022 durch die FIFA? Von einigen Teilzeitexperten für kontaktschuldnerische Dispokredite hört man dazu, eine Fußballmannschaft würde ein Land repräsentieren, ein Tennisspieler aber nicht. Einzelschicksale vor Teamschicksal. Aha. Eine Fußballmannschaft besteht also nicht aus 23 jungen Profisportlern?
Übrigens: Wimbledon findet jährlich statt, eine WM nur alle vier Jahre. Allein mathematisch betrachtet kann der Tennisprofi in zwölf Monaten wieder dabei sein. Der Fußballprofi frühestens in vier Jahren. Gut, vielleicht spielt bei dieser verqueren Bewertungs-Selektion zusätzlich eine Rolle, dass die WM in Katar stattfinden wird und man sich mitunter wünschet, auch die deutsche Nationalelf, die in einem Anfall von Marketing-Brillanz inzwischen nur noch als "Die Mannschaft" fungiert, würde von einer Teilnahme absehen.
Aber Schwamm drüber: Wenn sich die selbsternannten Generalbevollmächtigten des öffentlichen Diskurses in ihrer liberal-hysterischen Genialitätseuphorie festgelegt haben, dass es da Unterschiede gibt: geschenkt. Dann sollten Sie allerdings auch ein Argument dafür vorbereiten, wenn sie irgendwann mal jemand fragt, warum sie es für ungerecht hielten, wenn hochbezahlte Tennis-Millionäre mal ein Turnier aussetzen müssen, nur weil ihr Land gerade Zivilisten abschlachtet und Europa mit einem Atomkrieg droht, während ihnen die Millionen von nicht populären Russen und Russinnen egal sind, die ihren Job aufgrund westlicher Reaktionen auf den Krieg komplett verloren haben und vor dem wirtschaftlichen Ruin stehen.
Als nämlich im Prinzip alle Global Player wie Starbucks, McDonald´s oder Daimler ihre Russlandgeschäfte eingestellt haben und ihre Shops geschlossen, verloren Menschen ihre Arbeit, die mindestens ebenso wenig Schuld am Krieg in der Ukraine trifft, wie russische Tennisprofis. Außer, dass sie kein bequemes Geldpolster haben, um ihren Jobverlust auszugleichen. Warum hat man mit Millionären Mitleid, aber mit einfachen Menschen nicht?
Herzogin Kate als Propaganda-Katalysator
Der Ausschluss russischer Einzelsportler von Turnieren wie Wimbledon hat darüber hinaus zahlreiche politische Ebenen, die in der reflexartigen Sofort-Gegenrede der Gutmenschen vom VIP-Balkon der Twitter-Welterklärer überraschenderweise keinerlei Rolle spielen. Ausgerechnet bei den Diskurs-Koryphäen, die sich sonst damit rühmen, einen Vorgang wirklich von absolut allen Seiten zu beleuchten.
Als da wären: Viele Kenner des russischen Sport-Systems sagen eindeutig: Ohne ausgeprägte Regimekonformität kann man in Russland, ähnlich wie auch in der DDR, im Sport auf keinen Fall erfolgreich werden. Für die Förderungen und Möglichkeiten, seinen Sport auszuüben, muss man sich regierungstreu bis in die Haarspitzen zeigen.
Wenn anders als erwartet keine russischen Profis dabei sind, fragen sich vielleicht auch mal ein paar von Putins Mediengleichschaltung gehirngewaschenen Russen, ob da vielleicht doch nicht alles so fantastisch und gerecht ist, was Putin gerade in der Ukraine veranstaltet. Darüber hinaus würden Putin und seine Propaganda-Industrie Erfolge russischer Tennisprofis in Wimbledon sofort als Sieg gegen den verhassten Westen und Symbol der Überlegenheit des russischen Systems über den bösen Kapitalismus umdeuten. Gipfelnd im kommunikativen Supergau der bildergesteuerten öffentlichen Wahrnehmung, wenn am Finalsonntag
Offene Briefe, offene Fragen
Was
Ja, so habe ich auch geguckt. Stellen Sie sich so eine Argumentation mal unter den Alliierten vor, die Europa 1945 befreit haben. Trotz historischer Verantwortung, die in Deutschland größer ist als in anderen EU- und NATO-Ländern, mokiert Schwarzer letztendlich: Was erlaubt sich der Präsident der Ukraine, nicht schon längst aufgegeben und sich ergeben zu haben. Könnte man Kriege durch realitätsferne Aggressor-Polemik gewinnen, hätte Alice Schwarzer bereits für den Weltfrieden gesorgt.
Nun habe ich mich, auch weil ich während des Schreibens der Zeilen zu diesem Text nebenbei "Anne Will" und einen Harald Welzer erleben musste, der als Kind offenbar in einen Topf mit Arroganz-Zaubertrank gefallen ist, so sehr in Rage getippt, dass für das dritte Thema kein Platz mehr ist. Vielleicht greife ich
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