Ich beginne diese Woche mit einem Einblick in mein privates Telefonbuch, oder eigentlich eher mit einem Einblick in das, was sich nicht darin befindet. Ich kenne weder Olli Schulz noch Fynn Kliemann oder Kasia Lenhardt persönlich. Der signifikanteste Unterschied zwischen diesen drei Menschen ist: Kasia Lenhardt lebt nicht mehr. Nach einer gescheiterten Beziehung mit Nationalspieler Jérôme Boateng und dem folgenden (insbesondere durch die "Bild"-Zeitung forcierten) Cybermobbing-Tsunami, dem die junge Mutter sich plötzlich schutzlos ausgeliefert sah, wurde die ehemalige "Germany's Next Topmodel"-Finalistin im Februar 2021 tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Sie hatte Suizid begangen.
Im Winter des vergangenen Jahres entfachte Kasias Tod eine dringend erforderliche, sehr berechtigte und gleichzeitig sehr emotional und hitzig geführte Diskussion über die Rolle von Boulevardmedien und ihrer Verantwortung gegenüber Menschen, die (oftmals durch unbestätigte Gerüchte) der Brutalität des anonymen Internet-Tribunals der Kommentarspalten-Judikative überlassen werden.
Eine vollständige Aufklärung der medialen Begleitumstände blieb aus.
Auch im Fall Kasia spielte der Boulevard seine Verantwortung runter. In den unter Klickdruck stehenden Redaktionen sah man sich schuldlos und kreierte ungerührt neue Skandale. Auch dadurch verblasste der Fall Kasia Lenhardt im breiteren Diskurs nach wenigen Wochen. Er ging einfach unter. So wie viele andere wichtige Themen im bisweilen gnadenlos schnelllebigen News-Zeitalter aus ständigen Echtzeit-Breaking-News und hemmungslosen Clickbait-Wettbewerben. Bis zur vergangenen Woche. Da tauchte der Name Kasia Lenhardt relativ unvermittelt in einem Instagram-Statement von
Nach Böhmermann-Beitrag: Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Fynn Kliemann
Freundschaft auch in schlechten Tagen
Bevor ich hier darauf eingehe, warum die Situationen, in denen die Öffentlichkeit mit Kasia Lenhardt und Fynn Kliemann plötzlich gnadenlos umgesprungen ist, in keinem denkbaren Szenario miteinander verglichen werden können, möchte ich folgendes vorwegschicken: Ich habe großen Respekt vor Menschen, die ihre Freunde auch in den Momenten nicht fallen lassen, in denen sich herausstellt, dass sie womöglich einen oder mehrere sehr große Fehler begangen haben. Fehler, die viele andere möglicherweise für unverzeihbar halten. Freundschaften, sofern halbwegs auf Ernsthaftigkeit basierend, sind im Grunde genommen sogar vor allem in solchen Momenten wichtig.
Insofern halte ich das Instagram-Statement von Olli Schulz zu Fynn Kliemann, welches viele Gemüter (ja, auch meins) erhitzt und für einen digitalen Stellungskrieg zwischen Fynn-Fan- und Fynn-Hater-Lagern gesorgt hat, für gut, ehrlich, charakterstark, wichtig und womöglich sogar notwendig. Allerdings nur bis zum letzten Abschnitt. Nach seinen absolut berechtigten Anmerkungen darüber, was wochenlanger Druck in Menschen auslösen kann, selbst wenn man vermeintlich Medienprofi ist und dem Hinweis darauf, dass wir im öffentlichen Diskurs nicht gerade zimperlich miteinander umgehen, subsumierte Schulz seine Gedanken mit dem Satz "Ich muss immer wieder an die Geschichte von Kasia Lenhardt denken".
Dieser erstaunliche Vergleich beschädigte das zu Recht nachdenklich stimmende Bild der Vernunft, das Schulz mit seinen sehr eindringlichen, aufrührenden und gleichsam bedeutenden Worten zunächst aufgebaut hatte, nachhaltig. Viele Kritiker warfen ihm vor, er würde mit seinem Statement klassische Täter-Opfer-Umkehr betreiben. In meinen Augen ist das allerdings nicht das zentrale Element, das dem Statement von Olli Schulz bedauerlicherweise seine positive Wucht nimmt.
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Kliemann reanimiert seine Kritiker
Natürlich hätte es den Ausführungen von Schulz nicht geschadet, hätte er die Verfehlungen Kliemanns wenigstens mit einem Satz getadelt – und nicht nur die Öffentlichkeit für ihren Umgang mit Kliemann. Es darf aber davon ausgegangen werden, dass Schulz die mutmaßlichen Betrugsversuche Kliemanns nicht mit "So schlimm war das doch nicht, kriegt euch mal wieder ein" relativieren würde. Eine Einordnung dazu fehlt allerdings in seinen viel zitierten Instagram-Gedanken. So bleibt es verständlich, dass diese Auslassung als Verharmlosung interpretiert wird. Aber ist nicht eigentlich etwas anderes an diesem Statement noch viel bedenklicher?
Eines ist klar: Die erneute große Aufmerksamkeit, einhergehend mit aus hunderttausend Tastaturen herausgekotzten Kommentaren von Kritik bis Häme, von Unverständnis bis Beleidigung, hat niemand anders als Fynn Kliemann selbst reanimiert. Nach dem Enthüllungsskandal, in dem Jan Böhmermanns "ZDF-Magazin Royale"-Redaktion umfangreich dokumentiert hatte, in welche dubiosen Geschäfte Kliemann offenbar involviert ist, und der folgenden Empörung und Diskussion, war es schon lange wieder ruhig um ihn geworden.
Fynn Kliemann selbst hat mit seiner Wutrede die berühmte Büchse der Pandora erneut geöffnet. Sein Rundumschlag gegen klickbesessene Medien, Nestbeschmutzer
Diese Melange aus "Ihr seid alles Schweine" und "Böse Mächte wollen mich ruinieren" war es, die Kliemann zu seinem Comeback auf den Titelseiten verhalf. Und eine mitunter verstörte Öffentlichkeit schuf, die sich im Angesicht mittlerweile eingeleiteter Untersuchungen der Staatsanwaltschaft und zahlreichen neuen Recherchen, die über die Böhmermann-Anschuldigungen noch hinausgehen, etwas mehr Demut und etwas weniger Verschwörungs-Krawall gewünscht hätte. Das muss Kliemann als Social Media Profi gewusst haben. Die Dynamik, mit der er sich jahrelang nur zu gerne zum hochtalentierten Vorzeige-Gutmenschen hochliken ließ, funktioniert im Prinzip wie die "Bild": Wer mit ihr im Aufzug hochfährt, fährt mit ihr auch im Aufzug wieder runter.
Und auch Olli Schulz ist ein Profi. Er ist keine GNTM-Teilnehmerin, die eben noch für 8,50 Euro die Stunde Cappuccinos in einem Café in Erfurt serviert hat und quasi über Nacht ins Haifischbecken Entertainmentbranche geworfen wurde. Er ist seit Jahrzehnten dabei und weiß genau, auf welche Karte mit welchem Spielzug reagiert wird. Seine Kliemann-Prosa "Wie gehen wir mit Menschen um, auch wenn sie Fehler gemacht haben?" könnte mit Kasia Lenhardt kaum unglücklicher illustriert sein. Der hier konstruierte Kontext, vor allem im Zusammenhang mit der Vokabel "Fehler", hat aus meiner Sicht in einer vernunftbasierten Analyse der Fynn Kliemann Thematik absolut gar nichts zu suchen. Kasia Lenhardt wurde unverschuldet einer gnadenlosen Hetzjagd ausgesetzt, in der über Wochen ein extrem populärer Fußballprofi vom Deutschen Meister FC Bayern München und die größte Boulevardzeitung des Landes quasi täglich mit nie bestätigten Behauptungen weiteres Öl ins Feuer gossen. So lange, bis die gleichsam schuld- wie schutzlose Kasia es nicht mehr aushielt und für sich keine andere Lösung mehr sah, als den Suizid zu wählen.
Vor diesem Hintergrund muss auch ein Olli Schulz sich trotz seiner insgesamt sicher wohlwollend und gut gemeinten Äußerungen fragen lassen: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Kasia Lenhardt und Fynn Kliemann? Und vor allem: Welchen Fehler hat Kasia Lenhardt begangen? Wo doch der Umgang mit den Fehlern anderer Menschen das essenzielle Thema des Statements von Olli Schulz war. Man hätte hunderte passende Beispiele anführen können von Prominenten, die sich nach einem Fehltritt einem wütenden Mob ausgesetzt sahen, der in vielen Momenten weit über die Grenzen der vertretbaren Kritik hinausschoss. Kasia Lenhardt war das denkbar schlechteste. Ich bin sicher, dass auch Olli Schulz das in einer ruhigen Minute womöglich heute so einschätzen würde.
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