Als die Band Echt 1994 gegründet wurde, war ich fünf Jahre alt. Die Protagonisten waren noch sehr jung, die Fans teilweise noch jünger, die Nation erlebte ein Deutschpop-Bandwunder – nur ich hatte mit fünf noch keine Berührungspunkte mit Bravo-Starschnitten. Ein paar Jahre später würde meine ältere Schwester mir erzählen, sie hätte einen Abend mit Kim Frank verbracht, bis der mit einer anderen jungen Frau spontan noch einen anderen Termin hatte. Dazu aber später mehr, hier nur schon mal als Teaser, damit Sie auch wirklich dranbleiben.

Eine Kolumne
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Warum aber berichte ich heute ausgerechnet von Echt? Einer Band, die ich nie aktiv begleiten konnte, da sie sich bereits wieder aufgelöst hatte, als ich 2002 mit 13 Jahren so langsam ins groupietaugliche Alter reinpubertierte. Nun, das ist einfach: Pünktlich im 21. Jahr nach ihrer Trennung kam diese Woche die von Kim Frank selbst initiierte und produzierte Doku über Echt in die Wohnzimmer der Nation. 21 Jahre. Eine lange Zeit. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es Echt jetzt deutlich mehr Jahre nicht mehr gibt, als die fünf besten Freunde überhaupt alt waren, als sie Echt damals als Schülerband gründeten.

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Echt machen Insta-Storys, lange bevor es Instagram gibt

Aber mal der Reihe nach. Anders als die weniger aus Musikern, sondern in erster Linie aus hübsch gecasteten Jungs bestehenden Bands, die 1994 die Herzen der Teenager höherschlagen ließen, waren Echt tatsächlich: echt. Echte Freunde, echte Musiker. Gut, Kai Fischer, der Gitarrist, war kein Carlos Santana. Andreas Puffpaff, der Bassist, kein Lemmy Kilmister. Schlagzeuger Florian Sump kein Phil Collins und Keyboarder Gunnar Astrup kein Elton John. Aber gegen die instrumentalen Fähigkeiten der Weltstars von NKOTB oder Boyzone, die Anfang der 90er Jahre gemeinsam mit Take That Mädchenherzen höher schlagen und Musikmanager-Konten explodieren ließen, waren Echt die Berliner Philharmoniker. Und dann gab es da ja auch noch Kim Frank, den Sänger.

Der charismatische, verträumte Traumschwiegersohn, der sich in den acht Jahren mit Echt vom High-School-Schönling zum melancholischen Surferboy entwickelte. In der Retrospektive scheint verständlich, dass sich die fünf Jungs aus Flensburg karriereübergreifend stets vehement gegen das Label "Boyband" wehrten.

Die Doku, das ist das Signifikanteste, was sofort auffällt, schafft ein Kunststück, das ich so noch nie zuvor gesehen habe. In der Anfangsphase ihrer Karriere schenkt der Manager ihnen eine Videokamera. Mitte der 90er Jahre. Es gibt kein iPhone, keine Smartphones, kein Instagram, kein Facebook und schon gar kein Tiktok. Mit Handys kann man damals maximal telefonieren und SMS schreiben. Sie haben noch kein Internet und keine Kameras.

Die Jungs integrieren ihre Kamera wie ein sechstes Bandmitglied. Sie ist Tausende von Kilometern im Tourbus dabei, in Hunderten von Hotelzimmern, auf After-Show-Partys, bei TV-Auftritten. Im Prinzip produzieren Echt rund um die Uhr Instagram-Storys, lange bevor es Instagram gibt.

Wo seid ihr jetzt, sagt mir, wo ihr steckt!

Die Karriere von Echt währt nur acht Jahre. Fünf beste Freunde starten 1994 in das größte Abenteuer ihres Lebens und schwören sich, für immer zusammenzubleiben. Aber nicht jede Band ist wie die Rolling Stones. Es kann unterschiedlichste Gründe geben, warum eine Gruppen-Konstellation nicht mehr harmonisch genug funktioniert oder nicht mehr alle Beteiligten ausreichend Lust auf den Entertainment-Zirkus, den Leistungsdruck, die freizeitlose Dauerinszenierung oder die Bandkollegen haben.

Ich möchte nicht spoilern oder spekulieren, warum es bei Echt am Ende nicht gereicht hat, auch heute noch eine funktionierende Band zu sein. Um eine valide Einschätzung zu dieser Frage zu bekommen, muss man sich die wirklich sehr sehenswerte Doku "ECHT – unsere Jugend" ansehen. Zum Beispiel in der ARD-Mediathek.

Ich möchte hier lieber von der Atmosphäre berichten, die die Echt-Doku in mir ausgelöst hat, obwohl ich selbst am Ende der Bandhistorie noch zu klein war, um sie live erlebt oder Platten von ihnen gekauft zu haben. Trotzdem könnte ich noch heute Songs wie "Weinst Du" oder "Du trägst keine Liebe in Dir" Wort für Wort mitsingen. Die Videokamera, die die Fünf stets mit sich rumtragen, sorgt für Bilder und Einblicke, die kein Doku-Team jemals hätte kreieren können, selbst wenn sich eine Horde top motivierter Redakteure von Tag eins an die Fersen von Echt geheftet hätte.

Die Jungs filmen sich kompromisslos und überall. Schon in der ersten Folge der Doku sehe ich mehr verpixelte männliche Geschlechtsorgane als im Livestream von der Jahreshauptversammlung des DFK, dem Deutschen Verband für Freikörperkultur – also letztendlich dem organisierten FKK-Fanclub.

Kim, Kai, Andreas, Florian und Gunnar sind teilweise erst 15 Jahre alt, als sie vom Pausenhof der Kurt-Tucholsky-Schule in Flensburg in die Viva-Studios und auf die Titelseiten des Landes gespült werden. Irgendwann in der Doku fällt sinngemäß der Satz "ohne Viva und Bravo hätten wir es nie geschafft." Der TV-Sender Viva ist erst ein Jahr vor der Gründung von Echt on air gegangen und hatte bis zum Durchbruch mit "Alles wird sich ändern, wenn wir groß sind" bereits das Musikfernsehen in Deutschland revolutioniert.

Noch heute stammen gefühlte 50 Prozent der deutschen TV-Moderatoren und -Moderatorinnen unter 50 aus der Viva-Schule. Ohne Internet und Social-Media-Plattformen sind TV und das damals größte Jugendmagazin die perfekte Eintrittskarte für die Showbühnen des Landes – und Echt nehmen gnadenlos alles mit. Sie spielen, wo sie spielen können und treten überall auf, wo sie eingeladen werden. Eine stressige Zeit, aber am Ende sind sie fünf beste Freunde, die ihren Traum leben. Hinter dem Arbeitsmarathon steckt nämlich eine Strategie. Die längst von der Schule offiziell beurlaubte Band setzt alles auf die Karte Musik – und sprengt die Bank.

Fünf Freunde Reloaded

Noch heute bin ich dankbar, dass Kim, Kai, Andreas, Florian und Gunnar sich Echt und nicht "KKAFG" genannt haben, wie man es von 15-Jährigen mit TKKG-Hintergrund vielleicht hätte erwarten können. Während die Jungs im Musik-Biz der 90er Jahre erwachsen werden, mit all seinen Verlockungen, kopulationsbereiten Fans, halbseidenen Trittbrettfahrern und Abgründen, läuft unentwegt ihre Kamera. Und das nicht nur dort, wo 30 TV-Kameras ebenfalls laufen.

"KKAFG" filmen sich im Whirlpool, beim Joint-Rauchen, beim Trash-Talk darüber, wie oft sie schon in Hotel-Pools "gewichst" haben. Nichts, was andere Jungs mit 15, 16 Jahren nicht auch mit ihren besten Freunden teilen würden. Aber, und das ist gut: Kim, Kai, Andreas, Florian und Gunnar sind heute, mehr als 20 Jahre nach dem Aus von Echt nicht daran interessiert, andere in ihr Babylon Flensburg Szenario reinzuziehen.

Bei 250 Stunden selbst gefilmtem Rohmaterial aus mehreren Jahren Popkarriere ist davon auszugehen, dass eine Menge Bildmaterial existiert, auf dem noch explizitere Szenen zu sehen sind als fünf nackte Jungs im Pool. Echt belassen es aber dabei, sich selbst zu entlarven. Bandfremde Gäste, vor allem weibliche, die sich über die Karriere-Jahre – das sagt jedenfalls die Legende – zu Hunderten in den Hotelzimmern der Jungs die Klinke in die Hand gegeben haben sollen, werden nicht vorgeführt.

Bei der Menge an nackter Band-Haut, die zu sehen ist, muss man kein Genie sein, um auszurechnen, dass es vermutlich auch sehr viel nackte Fremdhaut auf den Tapes geben könnte. Es wäre einfach gewesen, damit (selbst verpixelt) für das gewisse "Etwas" zu sorgen. Eine Groupie-Doku hätte noch mehr Presse, noch mehr Boulevard und noch mehr Neugierige angezogen. Die Band verzichtet darauf. Eine Entscheidung, die sie auch karriereposthum noch mal sympathischer macht.

One Night at Hallerstraße

Kim Frank, dem als Sänger stets ein leichter Popularitätsvorsprung zuteilwurde, wirkte schon sechs, sieben Jahre nach Bandgründung gelegentlich auf eine gewisse Art und Weise wie ein gefallener Engel. Immer noch blutjung, aber mit einigen Jahren Popstar-Erfahrung in den Knochen, irrt er durch die Hamburger Partyszene. Zu Beginn der Nullerjahre waren das vor allem sogenannte Ammer-Partys. An einem Abend, das müsste in meiner Erinnerung etwa Ende 2000 oder Anfang 2001 gewesen sein, lernt meine Schwester ihn dort sogar kennen.

Er selbst wird sich vermutlich nicht daran erinnern, aber die Geschichte von meiner Schwester geht so: Mitten in der Nacht, gegen drei Uhr morgens, steht Kim Frank allein und verloren vor dem Bunker in Hamburg. Meine Schwester, eine Freundin und deren bester Freund gabeln ihn auf und fragen, ob alles in Ordnung sei.

Kim wirkt angeschlagen, etwas traurig und durchaus in einem Zustand, in dem er ein paar nette Menschen gebrauchen könnte, die ein wenig Zeit mit ihm verbringen. Meine Schwester und ihre Freunde nehmen ihn mit in ihre Wohnung an der Hamburger Hallerstraße, zwischen Rothenbaumchaussee und Hochallee.

Oben im zweiten Stock sitzen sie mehrere Stunden am Esstisch. Kim erzählt viel, es sprudelt teilweise aus ihm raus. Wenn ich mich an die Erzählungen richtig erinnere, berichtet er unter anderem davon, wie sein älterer Bruder zur Bundeswehr gegangen war, während er selbst die Bundeswehr verachtet – und das vorher großartige Verhältnis zu seinem Bruder damit schwer belastet wird.

Der Abend, na ja, die Nacht, vergeht wie zwischen besten Freunden, die sich endlich mal ein paar Dinge von der Seele reden, die sie schon lange Mal loswerden mussten. Kim Frank zeigte sich ausnahmslos höflich, geht zum Rauchen auf den Balkon und bedankt sich für die Getränke, das Mitnehmen und den schönen Abend, bevor er am Morgen mit der Freundin meiner Schwester in einem Taxi ins langsam aufwachende Hamburg verschwindet, als die Straßenlaternen in Pöseldorf und Harvestehude schon längst wieder ausgeschaltet sind.

Keiner der Beteiligten dieser legendären Nacht hat Kim Frank jemals wiedergesehen. Als ich im Sommer 2007, kurz nach meinem 18. Geburtstag, stolz mit meinem ersten eigenen (und übrigens selbst bezahlten) Auto durch Hamburg cruiste und mich unfassbar erwachsen fühlte, hörte ich für eine Weile den Song "Zwei Sommer" in Dauerrotation. Ich weiß nicht, ob dieses Soloprojekt für Kim Frank ein kommerzieller Erfolg war – mich hat der Song damals aber gepackt.

Ich konnte wieder jede Zeile auswendig und mein kleines Cabrio sorgte in diesem Sommer dafür, dass das auch der Rest von Hamburg mitbekam. Ich war damals schon seit vier Jahren international als Model unterwegs – jedenfalls in dem Rahmen, den meine Eltern mir während der Schulzeit gestatteten. Abitur ist wichtiger, na klar. Dennoch war ich in jenem Sommer 2007, das weiß ich noch recht gut, auch ein wenig sauer. Im Musikvideo zu "Zwei Sommer" räkeln sich zahllose Models in einem Citroen um Kim Frank und spielen für ihn Gitarren auf seiner Bühne. Für mich damals skandalös, nicht für dieses Video angefragt worden zu sein. Das werde ich Kim Frank nie verzeihen – die Doku sollten Sie aber dennoch schauen!

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