Ein Leben auf der Überholspur beginnt mit frühkindlicher Förderung – oder sind solche Programme völlig überzogen? Es gibt Themen, an denen scheiden sich die Geister, beispielsweise, wenn Eltern mit unterschiedlichen Erziehungsansätzen miteinander diskutieren. In diesem Briefwechsel tauschen sich zwei Elternpaare mit ganz unterschiedlichen Bildungsvorstellungen aus. Dabei geben sie offen zu, warum die Haltung des anderen so manche Vorteile haben kann.
Liebe Eltern und Befürworter von frühkindlicher Bildung,
manche Leute bezeichnen euch als "Helikopter-Eltern", weil ihr ständig um euren Nachwuchs rotiert. Von Anfang an plant ihr jeden (Entwicklungs-)Schritt eurer Kinder und habt schon vor der Geburt ganz große Pläne für sie geschmiedet. Für uns steckt viel Positives in dieser Einstellung: Fürsorge, Aufmerksamkeit und ein großes Interesse daran, die Potentiale des Kindes auszuschöpfen.
Für euch nimmt die Bildung einen hohen Stellenwert ein. Eure Kinder sollen nicht erst in Kindergarten und Schule mit dem Lernen beginnen, denn die Weichen für das spätere Lernverhalten wollt ihr schon vorher stellen. Eigentlich ist eure Haltung nur konsequent. Um die Gesundheit ihres Kindes sorgen sich Eltern in der Regel, seit sie von der Schwangerschaft wissen. Warum sich also nicht auch von Anfang an, um die besten Lern- und Entwicklungschancen bemühen?
Ihr investiert viel Zeit, um mit eurem Nachwuchs Babykurse zu besuchen: Von der Sprachentwicklung bis zur Körperkoordination und kreativ-musischer Ausdrucksfähigkeit lässt sich alles bereits ab wenigen Lebensmonaten fördern – auf euren Wunsch sogar in englischer Sprache. Keine finanzielle Investition ist euch zu hoch. Daher habt ihr eine chinesische Tagesmutter, die für zusätzliche Sprachkenntnisse sorgt. Erziehung mit ökonomischem Weitblick eben.
Auch wenn wir uns für einen anderen Erziehungs- und Bildungsstil entschieden haben, rechnen wir euch dieses Engagement hoch an. Da ihr euch als so fürsorgliche Eltern präsentiert, sind wir uns sicher, dass ihr noch genügend Freiräume lasst – und gleichzeitig die individuellen Wünsche eures Nachwuchses respektiert.
Viele Grüße
von den Eltern, die nicht auf frühkindliche Bildung setzen
Liebe Eltern und Gegner von frühkindlicher Bildung,
es tut jedes Mal wieder gut, wenn wir auf euch treffen! Im Austausch wird uns wieder bewusst, dass sich das Leben nun mal nicht bis ins letzte Detail planen lässt. Wir haben alle die besten Wünsche und Hoffnungen für unsere Kinder und treffen viele Entscheidungen, die ihr Leben prägen. Trotzdem ist es immer wieder gut, einen Schritt zurück zu treten, abzuwarten oder bereits getroffene Entscheidungen – mit Rücksicht auf die Entwicklung des Kindes - zu hinterfragen.
Die frühkindliche Entwicklung fördert ihr nicht durch eine Vielzahl an Baby-Kursen, eine speziell ausgebildete Tagesmutter oder eine zwei sprachige Kita. Ihr habt ein Urvertrauen in das Leben, dass es auch der Kindergarten um die Ecke tut. So müsst ihr nicht durch die halbe Stadt fahren, um den Nachwuchs abzugeben und wieder zu holen. Das heißt, ihr habt mehr gemeinsame Zeit, das Familienleben ist entspannter.
Bildung soll ganz frei von Druck und Ansprüchen sein, damit eure Kinder sich ihren Interessen entsprechend entwickeln können. Dafür braucht es natürlich etwas Geduld, bis sich das Kind ausdrücken und entscheiden kann. Doch wieder beweist ihr dieses große Vertrauen: Euer Nachwuchs wird selbst ohne vorgegebene Bahnen den besten Weg für sich finden.
Insgesamt seid ihr mit dieser Einstellung flexibler als wir. Wer keine fixen Erwartungen hat, wird nicht so leicht enttäuscht und muss sich nicht erst umstellen. Euer Kind will nicht weiter zum Musikunterricht gehen, weil es lieber mit Freunden spielt? Ihr werdet bestimmt nicht darauf bestehen – während wir unseres zum Durchhalten animieren würden. Wenn euer Kind Ehrgeiz entwickelt, Karriere macht und ein erfülltes Leben hat, dann aus sich selbst heraus und nicht, weil ihr es auf diesen Weg gebracht habt. Das ist ebenfalls eine schöne, selbstbestimmte Vorstellung.
Alles Gute wünschen euch
Eltern, die viel Wert auf frühkindliche Bildung legen
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