Es gibt Themen, an denen scheiden sich auf ewig die Geister. Wenn beispielsweise Nicht-Wähler mit leidenschaftlichen Demokraten diskutieren, prallen Welten aufeinander. Wir haben die Nase voll von Pro und Kontra und versuchen einen anderen Weg.

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Lieber Nicht-Wähler,

du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut ich dich verstehe. Deinen Frust über den politischen Zirkus den man "Wahlen" nennt, kenne ich nur zu gut. Man wird erschlagen von Plakaten, Diskussionen und Interviews von und mit Politikern, die so viel Authentizität haben wie ein Spanferkel aus Tofu. Mit inszenierter Dramatik und Empörung schimpfen sie auf alle anderen und versprechen uns gleichzeitig das Blaue vom Himmel: mehr soziale Gerechtigkeit, weniger Steuern, mehr Wirtschaftswachstum, mehr Wohlstand für alle – ein Brief an das Christkind ist nichts dagegen.

Während die meisten von uns das geringste Übel wählen, triffst du eine viel aufrichtigere Entscheidung und wählst niemanden. Vor allem weil du weißt, dass die gleichen Parteien, die während des Wahlkampfes so viel Sympathie füreinander haben, wie der Finanzmarkt für staatliche Regulierungen, nach den Wahlen eine Regierung bilden müssen und dann zu schnurrenden Kätzchen im Kuschel-Modus werden. Das Ergebnis: alles bleibt beim Alten. Daher verschwendest du weder Zeit noch Energie für etwas, das ohnehin sein Weg gehen wird. Stattdessen entscheidest du dich dafür, dich nicht wie alle anderen, alle vier Jahre aufs Neue für dumm verkaufen zu lassen. Denn du weißt, dass deine Stimme leider nichts ändern wird. Nicht weil du glaubst, dass sie nur eine von Millionen ist, sondern weil du generell das Mitspracherecht der Bevölkerung anzweifelst.

Du kritisierst zu recht, dass nicht wir, sondern die Wirtschaftslage und der globale Kontext bestimmen, welche Entscheidungen in der Politik getroffen werden. Unsere Parteien verlieren zunehmend an Einfluss und selbst diesen geringen Spielraum nutzen sie nur dazu, um sich selbst für die nächsten Wahlen zu positionieren. Für nachhaltige Visionen gibt es keinen Platz. Daher weigerst du dich, dir selbst und allen anderen etwas vorzumachen.

Deshalb bist du auch viel ehrlicher als wir Wähler. Denn im Grunde wissen wir gar nicht so richtig, was und wen genaue wir wählen. Wir lesen uns die Wahlprogramme nicht durch und entscheiden meistens auf Grundlage von Sympathien oder irgendwelchen populistischen Forderungen, deren Umsetzbarkeit wir erst gar nicht in Frage stellen. Du aber weißt, dass es sich dabei nur um leere Floskeln handelt und ziehst die einzig aufrichtige Konsequenz. Damit hältst du den Politikern und allen Wählern vor Augen, dass unsere Demokratie an Glaubwürdigkeit verloren hat.

Lieber Nicht-Wähler, ich wünsche dir, dass deine Stimmenenthaltung in Zukunft mehr Würdigung erhält. Dass du nicht als unpolitisch oder desinteressiert abgeschrieben wirst, nur weil du nicht bereit bist, ein politisches System zu unterstützen, das in erster Linie nur einen Zweck kennt: seine Selbsterhaltung.

Liebe Wählerin,

zuallererst möchte ich mich bei dir bedanken! Ohne dein Engagement würde unser politisches System nicht funktionieren. Eine Demokratie kann nur durch Menschen wie dich leben. Wir brauchen euch, damit unseren Politikern ein Kurs vorgegeben wird und damit sie sich darum bemühen, das Beste für alle Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Dass ihnen das nicht immer gelingt, ist dir sehr wohl bewusst. Darum bewundere ich, mit welchem Optimismus du alle vier Jahre aufs Neue versuchst, sie wieder auf Kurs zu bringen. Dass du es als deine bürgerliche Pflicht ansiehst, von deinem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Nicht nur für dich selbst und um deine eigenen Interessen zu verfolgen, sondern für uns alle.

Du bist der Überzeugung, dass jede einzelne Stimme eine Veränderung bewirken kann und lässt dich nicht entmutigen, wenn sich doch nichts ändert. Ich weiß, dass auch du manchmal frustriert bist. Über Wahlergebnisse, unsere Politiker, ihre Entscheidungen und unsere Gesellschaft. Du kennst meine Argumente und kannst sie auch nachvollziehen. Trotzdem lässt du dich davon nicht unterkriegen. Für dich ist Resignation keine Option. Denn damit würdest du das politische Schicksal unserer Gesellschaft anderen überlassen.

Für dich sind Wahlen ein Grundrecht, für das Millionen von Menschen Jahrhunderte lang gekämpft haben. Für uns mag es ein selbstverständliches Recht sein, aber in weiten Teilen der Welt ist es das auch heute noch nicht. Schon aus diesem Grund, empfindest du auch eine moralische Pflicht zu jeder Wahl zu gehen. Für dich geht es dabei nicht darum, dass ihre Ergebnisse auch immer deine persönlichen Wertevorstellungen widerspiegeln. Es geht darum, dass du ihren Ausgang mitbestimmen kannst. Dass du überhaupt nach deiner Meinung gefragt wirst und sie nicht von vornherein ignoriert wird. Du siehst darin eine Errungenschaft, für die lange gekämpft wurde und die wir keinesfalls wieder aus der Hand geben dürfen. Deiner Ansicht nach lohnt sich auch deshalb jeder einzelne Urnengang.

Liebe Wählerin, bitte behalte dir auch in Zukunft deinen Optimismus bei.

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