Sie selbst bezeichnet sich als "Trümmerfrau" der österreichischen Literatur. Die Welt kennt Elfriede Jelinek als Nobelpreisträgerin. Ihr Werk polarisiert bis heute - im Buch und auf der Bühne.
Die höchste literarische Auszeichnung hatte sie zutiefst verschreckt. "Ich verspüre eigentlich mehr Verzweiflung als Freude", sagte Elfriede Jelinek 2004 zur Verleihung des Literaturnobelpreises.
Ihre Reaktion war der Rückzug aus der Öffentlichkeit - kaum Interviews, keine Talk-Shows, kein Platz auf Podien. Auch zum Geburtstag der scheuen Autorin ist das nicht anders. Am 20. Oktober wird sie 70 Jahre alt.
Filme, TV-Sendungen, ein Symposium mit dem Titel "Nestbeschmutzerin und Nobelpreisträgerin" drehen sich um das Werk - aber ohne Auftritt der Frau, die als studierte Organistin die Musik mindestens so liebt wie das Schreiben.
Ein Zynismus, der nicht jedem gefällt
"Sie ist abwesend, aber präsent", sagt der Leiter des Rowohlt-Theaterverlags, Nils Tabert. Gemeint ist Jelineks Erfolg gerade als Dramatikerin. Vielfach wurde ein Text von ihr zum "Stück des Jahres" gekürt. Aber bei weitem nicht alle Theatergänger sind einverstanden mit dem Zynismus der Autorin.
Für Tumulte sorgte 2010 eine Inszenierung von "Rechnitz (Der Würgeengel)" am Düsseldorfer Schauspielhaus über ein Nazi-Massaker an 180 Juden, weil dort auch der "Kannibale von Rotenburg" in einem Monolog zu Wort kam.
Lange hatte die Feministin vor allem mit dem Muff und Mief in Österreich, dem Kapitalismus mit seinen verheerenden Folgen auf die menschlichen Beziehungen und mit der Kälte der Gesellschaft der Alpenrepublik abgerechnet.
"Spezialistin für den Hass"
Sie verabscheut Sport und insbesondere Skifahren - was sie in Österreich nicht populärer macht. Seit einigen Jahren wendet sich die "Spezialistin für den Hass", so einst die Literaturkritikerin Sigrid Löffler über Jelinek, mit ihrem Zorn, ihrer Leidenschaft und Streitlust globalen Themen zu.
"Der Blick hat sich verlagert", sagt Pia Janke, Leiterin der an der Universität Wien angesiedelten Forschungsplattform Elfriede Jelinek. Der Terror der Gotteskrieger und Selbstmordattentäter ist zentrales Element des jüngsten Stücks "Wut", das laut Verlag in mindestens 15 Inszenierungen auf die Bühne gekommen ist oder in Kürze kommen wird.
Stücke wie die "Winterreise" - in Anlehnung an ihren Lieblingskomponisten Franz Schubert ein handlungsloser Wort-Wust über eigene Schlüsselerlebnisse sowie die Bankenkrise - haben sogar rund 30 Inszenierungen erlebt.
Theaterstücke wie ein Blick in die Glaskugel
Mit ihren Themen habe Jelinek geradezu "seismographische Fähigkeiten" bewiesen, meint Janke. Bereits vor der Wirtschaftskrise habe die einst bekennende Kommunistin "Die Kontrakte des Kaufmanns" und 2013 - lange vor dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle - "Die Schutzbefohlenen" geschrieben.
"Jelinek ist produktiver denn je", sagt Janke. Schon jetzt handle es sich um ein monumentales Werk: 50 Theaterstücke, 800 Essays, rund ein Dutzend Romane, dazu Drehbücher, Übersetzungen, Lyrik sowie Libretti. "Das Schreiben ist für mich ein Segen, weil ich dazu das Haus nicht verlassen muss", so Jelinek.
Übersetzt in mehr als 40 Sprachen
Die deutschsprachige Gesamtauflage liegt dem Verlag zufolge bei 1,5 Millionen Exemplaren. Bestseller sind der Anti-Porno "Lust" ("So steht die Frau still wie eine Klomuschel, damit der Mann sein Geschäft in sie hineinmachen kann.") und der von Oscar-Preisträger Michael Haneke verfilmte Roman "Die Klavierspielerin". Ihr Werk wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt.
Ein roter Faden sind die aus Jelineks Sicht "allgegenwärtigen männlichen Herrschafts- und Gewaltverhältnisse". Als ihr Hauptwerk gilt "Die Kinder der Toten" (1995), ein Schauerroman über die Verdrängung des Holocausts.
Die Bücher und Texte sind nichts für Schnell-Leser. Im Zentrum steht immer die Sprache, die Sprachbefragung, die Spracharbeit, die Sprachkritik, nie die Handlung. "Es geht nicht um die äußere Handlung, es geht nicht um das Geschichtenerzählen", sagt Janke. In langen, oft über Seiten hinweg absatzlosen Textflächen flicht sie verschiedene sprachliche Ebenen ineinander.
Jelinek, seit 1974 mit einem Informatiker und Filmkomponisten aus Bayern in einer Art "Einzelgänger-Ehe" verheiratet, hat längst das Internet zu ihrer persönlichen Bühne erkoren. Dort hat sie auch - als "Privatroman" - die 900-Seiten-Geschichte "Gier" über eine frustrierte alternde Geigenlehrerin veröffentlicht. Im Internet breitet die in Wien und München lebende Autorin vieles aus, was sie beschäftigt und woran sie arbeitet.
Türkei-Krise, FPÖ und Chanel
In der Tageszeitung "Der Standard" erschien im August einer ihrer seltenen Kommentare außerhalb des Internets. Sie prangerte darin die Massenverhaftungen in der Türkei an und zugleich die Wortlosigkeit der Schreiberzunft.
"Ich höre nichts von meinen (Schriftsteller-)Vereinigungen. Vielleicht stecken sie derzeit ja im Gefängnis ihrer Badehosen oder Bikinis an irgendeinem Strand fest." Auch der Höhenflug der österreichischen Rechtspopulisten von der FPÖ lässt sie nicht kalt.
Als die konservative ÖVP im Jahr 2000 die FPÖ als Koalitionspartner in die Regierung holte, protestierte Jelinek mit einem - nach zwei Jahren wieder aufgehobenen - Verbot von Neuinszenierungen ihrer Stücke. Angesichts der Entwicklungen und Krisen sei Jelinek resignativer geworden, meint Janke. "Aber der Impuls lebt in ihr, die Ideologien infrage zu stellen."
Die große Politik bleibt also ihr Thema, doch sie kann auch Leichteres. Im Januar 2017 kommt in der Modestadt Düsseldorf ihr neuestes Stück "Das Licht im Kasten" im Schauspielhaus auf die Bühne.
Die Modefetischistin Jelinek - zu Treffen der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) ging sie im Chanel-Kleid - schreibt über Mode und Kleidung. Ein unpolitischer, witziger Text. Nach Terror, Flüchtlingen und Bankenkrise darf man auch einmal das Mondäne verhandeln. © dpa
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