Er fühlte sich in Österreich wegen seiner Malaktionen und seines blutigen Orgien-Theaters verfolgt, suchte Zuflucht in Deutschland und wurde dann doch ein verehrter "Professor" in seiner Heimat. Seine Schüttbilder haben Hermann Nitsch weltberühmt gemacht.
Das Schloss Prinzendorf ist ein prächtiger Besitz. "Und der Kauf war eine besondere Geschichte", erinnert sich Hermann Nitsch nicht ohne Vergnügen.
Der malerische Fleck in Niederösterreich gehörte der Kirche, genauer dem Stift Klosterneuburg. Dank einer kleinen Erbschaft seiner Frau interessierte sich Nitsch 1972 - damals in Österreich wegen Gotteslästerung und Pornografie schon vor Gericht - für das unrenovierte Gebäude aus dem 18. Jahrhundert.
"Gegen Ende der Verhandlungen sind sie plötzlich draufgekommen, wer ich bin - und wollten alles rückgängig machen", erzählt der Mann mit dem markanten grauen Rauschebart. Aber Nitsch hatte bereits bezahlt und den Schlüssel bekommen - das galt als Vertragsabschluss. Fortan wurde Prinzendorf zum zentralen Punkt seines "Orgien-Mysterien-Theaters".
Nitsch plant ein zweites Sechs-Tage-Spiel
2020 will der Aktionskünstler dort ein zweites Mal ein komplettes Sechs-Tage-Spiel mit viel Blut und unter Anrufung aller Sinne veranstalten. Ein erster Vorgeschmack ist aus Anlass seines 80. Geburtstags am 29. August im Nitsch-Museum in Mistelbach, nur rund zehn Autominuten vom Schloss entfernt, geplant.
"Aktion mit Sinfonie" nennt sich das künstlerisch-musikalische Happening am 1. September - es ist die erste seiner umstrittenen Aktionen in Österreich seit seinem Auftritt 2005 im Wiener Burgtheater.
Auf der größten Theaterbühne im deutschsprachigen Raum hatte Nitsch acht Stunden lang ein Ritual mit 100 Mitwirkenden, einem Gekreuzigten, toten Schweinen, einem frisch geschlachteten Stier sowie viel Obst und Gemüse inszeniert. Die Hochkultur verbeugte sich vor dem einst Verfemten und dessen Botschaft: Mehr Gänsehaut, mehr Intensität im Leben.
Nitsch hatte schon als 19-Jähriger die Idee für ein sechs Tage dauerndes Festspiel, das als Gesamtkunstwerk alle fünf Sinne ansprechen sollte. Eine Ambition, die fast logisch auch auf sein malerisches Tun ausstrahlte.
Nitsch will die Ekelschranke überwinden
Er - und andere Künstler - hätten mit Schüttbildern die Farbe als Materie begriffen. "Wir haben geschüttet, geschmiert, geknetet, gekritzelt", sagt der heute weltweit geachtete Künstler, dessen Werke in Häusern wie dem Museum of Modern Art in New York zu finden sind.
Die Verbindung zwischen Malen, Musik und Performance war vor 50 Jahren ein spektakulärer Akt. "Der Maler wurde zum Schauspieler im positiven Sinne, der sich vor der Leinwand sinnlich erregt hat." Dass Blut, Gedärme, Tiere eine zentrale Rolle spielten, hält Nitsch für angemessen. "Ein Überwinden der Ekelschranke ist Aufgabe der Kunst."
Als Vertreter des Wiener Aktionismus' galt Nitsch in der Heimat fast als Geächteter. "Happenings sind jene fragwürdigen Veranstaltungen, die aus viel Klamauk und nur wenig Kunst bestehen. Man schlachtet Tiere, streicht junge Mädchen mit Eidotter an, und bietet damit zahlenden Gästen eine Show, die ein Mittelding zwischen Striptease und absurdem Theater ist", befand die "Kronen Zeitung" im November 1966, als Nitsch und sein Galerist wegen Religionsstörung zu sechs Monaten strengem Arrest verurteilt wurden - zur Bewährung ausgesetzt. Das war der Anlass für Nitsch zur Flucht nach Deutschland.
Mehr Respekt in Deutschland
Dort war die Aufregung nicht ganz so groß, sondern es herrschte - so Nitsch - wesentlich mehr Respekt. "Ich hatte viele Verehrer und Befürworter gefunden. Auch die Kollegen waren wesentlich fairer und kameradschaftlicher."
Joseph Beuys habe ein Empfehlungsschreiben für ihn verfasst, sagt Nitsch, der den 1986 gestorbenen Aktionskünstler zu seinen Freunden zählte. Dennoch gab es auch in der Bundesrepublik Ärger, zum Beispiel um seine geplante Berufung als Professor an die Frankfurter Städelschule. Viele Veranstaltungen wurden verboten. Aber: In Deutschland sei "die Freiheit der Kunst" im Gegensatz zu Österreich bereits gesetzlich verankert gewesen, erinnert sich Nitsch, der zwei Mal an der documenta teilnahm.
Zum Gesamtkunstwerk gehört die Musik. Sie ist Geschmackssache. "Meine Musik hat ihren Ursprung im Schrei, im Angstschrei, im Stöhnen, Grunzen, Erbrechen", sagt Nitsch. Nicht wenige Takte seiner Kompositionen könnten auch in Fußball-Stadien oder auf dem Oktoberfest aufgenommen worden sein. Und schon die Titel der Kompositionen klingen nach Reizüberflutung: "Klaviersinfonie für 100 Pianisten an 33 Klavieren und einem Synthesizer", heißt es zu einer Uraufführung vom November 2012.
In Österreich wurde Nitsch erst spät anerkannt. Eine besondere Ehre war die Verleihung des Staatspreises und des Professoren-Titels 2005. Aus diesem Anlass sprach der Chef der rechten FPÖ und heutige Vizekanzler Heinz-Christian Strache von einer "Provokation der Sonderklasse". Die Auszeichnung für Nitsch füge dem Land internationalen Schaden zu.
Möglicherweise würde die FPÖ milder gestimmt, wenn sie wüsste, dass Nitsch zum Geldverdienen in jungen Jahren die Gesichter von Kindern gezeichnet, Gebirgslandschaften gemalt und klassische Meister kopiert hat. "Ich könnte es heute noch, aber ich habe kein Interesse daran", sagt Österreichs einst meistumstrittener Künstler. Inzwischen sieht er sich selber als eine Art Gesamtkunstwerk. ""Das ist sehr angeberisch, aber ich fühle mich als Maler, ich fühle mich als Poet, als Tragödiendichter, als Komponist, als Psychoanalytiker, und letztlich eigentlich als Philosoph." © dpa
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