In "Marvel's Avengers" kämpfen die Superhelden Iron Man, Thor, Hulk und die bezaubernde Ms. Marvel nicht nur gegen ein Monsterhirn, sondern auch gegen einen Wust an Ideen und Konzepten. Demgegenüber steht so viel Liebe zum Detail, dass es Marvel-Fans ganz warm ums Herz wird. Wer oder was gewinnt am Ende?
In der Brust von "Marvel's Avengers" schlagen zwei Herzen. Einerseits will die Superhelden-Truppe Einzelspieler mit einer spannenden Kampagne vor der Langeweile retten. Andererseits strebt das überaus ambitionierte und immer wieder verschobene Projekt eine lange Laufzeit als Multiplayer-Titel mit einem Games-as-a-Service-Charakter an, wie man ihn etwa von "Destiny" kennt.
Die beiden Bereiche sind zwar formell voneinander getrennt, aber doch eng miteinander verflochten - wie so ziemlich alles im gewaltigen Comic-Universum von Marvel. Ein Zwischenfazit.
"Marvel'S Avengers": Klopperei aus Fan-Perspektive
Für sein Marvel-Abenteuer, das aktuell für PC, PS4, Xbox One und Stadia erhältlich ist und später auf PS5 und Xbox Series X folgen soll, hat sich der sonst durch seine "Tomb Raider"-Spiele bekannte US-Entwickler Crystal Dynamics eine Story aus Fan-Perspektive ausgedacht: Die sonst aus den "Inhumanity"-Comics bekannte Pakistani Kamala Khan reist als blutjunger Fan zum Kurzgeschichten-Wettbewerb auf einer Benefiz-Veranstaltung der Avengers.
Hier wollen die Helden auf Tuchfühlung mit dem zu beschützenden Normalbürger gehen und obendrein der versammelten Presse eine neue Energie-Form vorführen. Die perfekte Gelegenheit also, um die noch aus Iron Man, Captain America, Thor, Hulk und Black Widow bestehende Superheldentruppe mit den Augen eines glühenden Bewunderers zu erleben - ein cleverer und angenehm softer Einstieg in die Materie.
Aber dann läuft alles gründlich schief: Plötzlich auftauchende Terroristen bedrohen San Francisco, der fliegende Flugzeugträger der Avengers geht zu Bruch, und die bei der Katastrophe freigesetzte Substanz "Terrigen" verwandelt tausende junger Menschen zu superkräftestrotzenden Mutanten - den "Inhumans". Unter ihnen auch die junge Kamala, die fortan mit Gummi-Gliedmaßen "gesegnet" ist.
Mehrere Jahre nach dem Super-GAU, der das Aus der Avengers bedeutete, bekommt Kamala (inzwischen "Ms. Marvel") Beweise zugespielt, dass hinter allem ein perfider Plan stecken könnte. Sie macht sich auf die Suche nach einer Widerstandsbewegung, um die Welt vor dem in der Zwischenzeit erstarkten "A.I.M."-Konzern und dem kriminellen Superhirn dahinter, M.O.D.O.K., zu befreien. Dessen Roboter-Armeen und -Polizisten jagen "Inhumans" wie Kamala, um sie anschließend von ihren übernatürlichen Fähigkeiten zu "heilen".
Die Kampagne ist nur das Tutorial
Crystal Dynamics nutzt die rund acht Stunden lange und aufwendig inszenierte Einzelspielerkampagne vor allem als eine Art Tutorial für das eigentliche Herzstück des Spiels - den nach "Games as a Service"-Modell aufgezogenen Multiplayer-Teil, der bei Erfolg Jahre lang mit zusätzlichen Helden, Herausforderungen, Battle Passes und Sonder-Events am Leben gehalten werden soll. Doch dazu später mehr.
Während Kamala die fast postapokalyptisch anmutenden USA auf der Suche nach den Avengers und anderen Inhumans durchstreift, wird der Spieler Schritt für Schritt an Steuerung und Spezialkräfte, später auch an die Kontrollen von Hulk, Thor & Co. herangeführt.
Für die Eroberung und Erkundung der meist üppig dimensionierten, gleichzeitig äußerst schlauchartig aufgebauten Arenen wählen die Entwickler eine Mischung aus Haudrauf-Action, kleineren Rätseln und Geschicklichkeitseinlagen - vor allem der gelenkigen Ms. Marvel mit ihren Sprung- und Kletter-Fähigkeiten verdankt das Spiel einen Hauch von "Tomb Raider"-Gameplay.
Das alles sorgt dafür, dass die "Avengers" zumindest anfangs nicht in die Sorte stumpfsinniger Keilerei ausarten, die man von den meisten Superhelden-Spielen gewöhnt ist. Allerdings wird nach dem Einzelspielermodus und seinem grandiosen Showdown schnell klar: Das Gros des Geschehens in den sogenannten Koop-"Warzones" besteht fast nur noch aus wüsten Prügeleien, in denen gezielte Attacken und Konter mitunter im Effektgewitter gnadenlos untergehen und panisches Knöpfchendrücken obsiegt.
Auf Biegen und Brechen
Schade außerdem, dass sich bereits der Kampagnen-Modus so hartnäckig darum bemüht, die Beute- und Skill-Mechanismen des Mehrspieler-Teils zu vermitteln. Das wirkt ein bisschen so, als hätte man zuerst ein Singleplayer-Spiel entwickelt und sich dann auf halbem Wege dafür entschieden, es doch noch in die Prügelspiel-Variante eines Loot-Shooters á la "Destiny" zu verwandeln. Überall stehen Kisten herum, in denen die Helden neue Brustpanzer, Armreife oder Reaktorkerne finden, um noch ein bisschen stärker zu werden.
Dadurch transformiert Crystal Dynamics die sonst druckvoll inszenierte und intuitiv spielbare Klopperei ohne jede Not in eine mit Action-Elementen angereicherte Verwaltungsorgie. Die alle paar Minuten plump aufploppenden Text-Boxen stören den Spielfluss und vermitteln ein durch alle Bereiche des Spiels wucherndes Regelwerk, das nur einem Zweck dient: den Multiplayer-Betrieb aufrechtzuerhalten - und über Mikro-Transaktionen für kosmetische Goodies wie coolere Outfits Geld in die Kassen von Betreiber Square Enix zu spülen.
Das Zwischenfazit
Grundsätzlich überzeugt der kurzweilige Online-Schlagabtausch von bis zu vier Koop-Helden und den A.I.M.-Schergen mit effektvollen Spezialmanövern, sich angenehm unterschiedlich spielenden Figuren und schicker Kulisse.
Aber selbst beim Internet-Teamwork wird man das Gefühl nicht los, als hätte man aus "Marvel's Avengers" etwas gemacht, das so nicht geplant war. Als wäre ein liebevoll präsentiertes Action-Spiel mit der Brechstange in eine Service-Maschine verwandelt worden.
Vielleicht hätte man sich besser darauf konzentriert, ein gelungenes Singleplayer-Erlebnis abzuliefern. Aber damit holt man womöglich die hohen Entwicklungs- und Lizenzkosten nicht so ohne Weiteres wieder herein.
(rb/tsch) © 1&1 Mail & Media/teleschau
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.