Sein markanter Blick geht seit den Sechzigern durch das internationale Kino: Der deutsche Schauspieler Udo Kier spielte in Hollywood-Blockbustern, provokanten Kultfilmen und preisgekrönten Arthouse-Produktionen.

Ein Interview

Im Oktober 2024 wurde Udo Kier 80. Einen Monat später wurde er beim 38. Braunschweig International Film Festival mit dem Schauspielpreis "Die Europa" ausgezeichnet, der für herausragende Darstellung und Verdienste um die Filmkultur verliehen wird. Im Interview erzählt Kier, welche Zufälle seine Karriere bestimmt haben.

Wer ist denn Udo Kier eigentlich?

Udo Kier: Udo Kier ist ein junger Mann, der in Köln aufgewachsen ist. Ich wurde im Krieg geboren, am 14. Oktober 1944, direkt sehr dramatisch: Die Krankenschwester hat alle Neugeborenen eingesammelt, um sie zu waschen, und meine Mutter hielt mich noch. Dann war ein Angriff, die Wand kam runter, ein Blutbad. Meine Mutter hatte Glück, dass ihr Bett in einer Ecke stand. Sie hielt mich mit einer Hand in der Dunkelheit fest und grub mit der anderen Hand ein Loch in die Trümmer und hat dann gewunken und "Hilfe!" geschrien.

Als Kind hat man das ja nicht gespürt, da war einfach Armut nach dem Krieg. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, weil der eigentlich verheiratet war und selber schon drei Kinder hatte, ohne das meiner Mutter zu sagen. Ich machte eine kaufmännische Lehre, um meine Mutter zu beruhigen, arbeitete dann sechs Monate bei Ford – ich war einer der ersten Roboter, immer kam das nächste Auto, hupp, hupp, Türklinken anbringen. Das Geld habe ich gespart, bin nach London gegangen, und da wurde ich entdeckt für den Film. Ich wollte nie Schauspieler werden, aber ein junger Mann kam und sagte: "Ich mache einen Film und möchte, dass du die Hauptrolle spielst." – "Ich weiß doch gar nicht, wie das geht!" – "Überlass das uns." Der Film hieß "Road to St. Tropez", und dann schrieb man in England: "Das neue Gesicht des Kinos". Ich kriegte sofort eine Agentur und fand die Aufmerksamkeit, die ich bekam, sehr interessant. Und dann habe ich einen Film nach dem anderen gemacht.

Udo Kier: "Dracula und Frankenstein haben für mich eine andere Tür geöffnet"

Da war die glückliche Fügung von Anfang an Ihr Begleiter.

Ich habe sehr viel Glück in meinem Leben gehabt. Im Flugzeug sitzt ein Mann neben mir und sagt, "was machst du denn, um zu leben?" Die Amerikaner wollen immer wissen, wovon man lebt. Ich sage, ich bin Schauspieler, und schreibe meine Nummer in seinen amerikanischen Pass. Ich sage: "Wer bist du denn?" – "Paul Morrissey, ich arbeite für Andy Warhol." Ein paar Wochen später kam ein Anruf: "Da ist der Mann aus dem Flugzeug. Ich mache einen Film für Carlo Ponti: 'Frankenstein'. Und ich habe eine kleine Rolle für dich." – "Ja, super, was spiele ich denn?" – "Frankenstein."

Und dann wusste ich ja, dass er auch "Dracula" dreht, aber ich sollte erst nicht Dracula sein. Am letzten Tag von "Frankenstein" sitze ich in der Kantine, trinke ein Glas Wein. Andy Warhol sagt: "Jeder ist berühmt für 15 Minuten, und deine fifteen minutes sind vorbei." Dann kam der Regisseur rein und sagte, "We have a German Dracula!" – "Wer?" – "Du." Und diese beiden Filme, "Dracula" und "Frankenstein" haben für mich eine andere Tür geöffnet. Plötzlich war ich im Vogue-Magazin.

Diese 15 Minuten wurden ja dann zu vielen Jahren und Jahrzehnten, und es zieht sich durch mit den Zufallsbegegnungen …

Bis jetzt! In Berlin zum Beispiel kam ein junger Mann auf mich zu: "Hallo, ich bin Gus Van Sant und habe einen Film hier im Wettbewerb, den ich für 20.000 US-Dollar gedreht habe. Aber mein nächster Film wird 'My Private Idaho' mit Keanu Reeves und River Phoenix sein. Ich möchte, dass du auch mitspielst". Ich hatte die Namen nie gehört und habe mir gesagt, ach, Regisseure auf Festivals sind immer einsam und quatschen. Nein, er hat nicht gequatscht – ich habe meine Arbeitserlaubnis bekommen, wurde Mitglied der Gewerkschaft, habe meinen ersten amerikanischen Film gedreht. Jetzt bin ich dreißig Jahre da.

Überall und zwischendrin hatte ich natürlich auch andere wichtige Leute kennengelernt, alles durch Zufall. Lars von Trier, als er seinen ersten Film vorstellte in Mannheim. Ich fand ihn hervorragend. Wir haben ein Bier getrunken, haben Telefonnummern ausgetauscht – da kriege ich ein paar Wochen später einen Anruf: "Ich mache 'Medea' und möchte, dass du König Jason spielst. Es gibt ein Problem: Du siehst nicht aus wie ein Wikinger. Wasch dir die Haare nicht für einen Monat und rasiere dich nicht." Ich sah ein bisschen komisch aus, roch auch ein bisschen komisch – und habe die Rolle bekommen. Das war der Anfang einer Freundschaft. Sofort wollte er, dass ich Patenonkel von seinem Kind Agnes werde, und dann haben wir einen Film nach dem anderen gemacht.

So sind alle Geschichten. Ich war in Berlin für die Filmfestspiele, guckte mir "Menü Total" an und dachte: Wow, das ist ja mutig. Abends gab es in Berlin die Bar Florian, da bin ich hingegangen. Es war kein Platz frei, und da war ein junges Paar und ein Stuhl dazwischen. Ich habe gesagt, kann ich mich hier hinsetzen? Dann habe ich festgestellt, dass das der Regisseur war: Christoph Schlingensief. Und die Frau war Tilda Swinton. Dann haben wir irgendwann mal mit unserem Weinglas unterm Tisch weiter getrunken, haben uns die Hand gegeben und gesagt, wir machen einen Film zusammen in zwei Wochen: "Egomania". So sind alle Zufälle. I'm a lucky man. Ich habe noch nie einem Regisseur gesagt: "Ich möchte gerne mit dir arbeiten." Stell dir vor, du fragst David Lynch, "I would like to work with you", und der würde dir antworten: "Wer nicht?". Da wäre ich ja unterm Tisch.

Udo Kier: "Alejandro Jodorowsky hatte mich für 'Dune' besetzt"

Wonach suchen Sie denn in den verschiedenen Rollen und Filmen?

Ich kriege ja Angebote. Wenn die Leute sagen: "Nur du kannst das spielen!", dann lese ich das. Und wenn jeder, der ein bisschen Ahnung hat, das spielen kann, dann brauche ich den Film nicht zu machen. Es gibt auch Leute, die mir Filme anbieten, und dann lese ich das Drehbuch und denke mir: "Ach, was bringt mir das?" Geld spielt in dem Moment nicht die Rolle. Ich habe viele Filme gemacht, wo ich dachte: Die werden super, und die waren uninteressant. Und ich habe Filme gemacht, die uninteressant waren, aber das Ergebnis war einfach gut.

Sie schauen sich die alten Filme gar nicht so gern wieder an, oder?

Nö. Ich kenne die Filme ja, ich habe sie ja auch gemacht. Ich muss mir das nicht nochmal ansehen.

Gibt es jemanden, mit dem Sie wirklich gerne gedreht hätten?

Mehrere! Alejandro Jodorowsky hatte mich für "Dune" besetzt, den später David Lynch übernommen hat. Ich sollte Feyd Rautha spielen – das war die Rolle, die dann Sting gespielt hat.

Die traurige Geschichte, da gehen mir die Haare hoch: Er gab mir vor Jahren ein Drehbuch – 1975 oder so – und sagte, "Udo, ein Drehbuch für dich – versuch, in Deutschland Geld dafür zu finden". Aber keiner wollte das in Deutschland finanzieren, ich kannte auch nicht so viele Leute. Das war "Santa Sangre", das hat er später mit seinem Sohn gemacht, aber es war meine Rolle – und das tolle ist, meine Mutter sollte sein: Bette Davis!

Udo Kier war nicht nur als Schauspieler unterwegs

Sie haben einmal Co-Regie bei einem Kurzfilm geführt, "The Last Trip to Harrisburg" – aber das kam ja auch eher zufällig zustande?

Unser Poet Wolf Wondratschek wollte in München einen Film machen und hatte mich und Ingrid Caven engagiert, die auch mal mit Fassbinder verheiratet war. Dann hat er nach drei Tagen gesagt, er macht den Film nicht. Ingrid war da, ich war da, der Kameramann war da – ganz unbekannt, aber jetzt Oscarpreisträger, Ed Lachman. Da habe ich gesagt, okay, dann mache ich jetzt einen Film, egal was, und wenn ich mich im Englischen Garten am Baum festhalte und 15 Minuten schreie.

Ich überlegte, ich könnte einen Kurzfilm über die Jean-Genet-Texte aus dem Gefängnis drehen – und Fassbinder hat gesagt: "Da kriegst du Schwierigkeiten mit den Rechten. Kauf dir doch mal die Bibel." Da habe ich Sachen in der Bibel gefunden, das hätte ich nie gedacht – Texte wie: "Die Hände liebender Frauen kochten die eigenen Kinder". Dann machte ich eine Collage aus der Bibel und spielte einen US-Soldaten im Zugabteil nach Harrisburg – es war dort gerade das Atomunglück. Und in seiner Fantasie sieht er eine schöne blonde Frau wie Marlene Dietrich, die spiele ich auch. Das war mein erster Film, und das Glück war, dass der in Mannheim beim Festival Eröffnungsfilm war – mit Lars von Trier.

Hätten Sie das Regieführen weiterverfolgen wollen?

Nee, das ist mir zu viel Arbeit. Geld auftreiben, Regie ... und das dauert ja ewig lange. Wenn ich dran denke, wie lange manche Regisseure an einem Werk arbeiten, bis es stattfindet – nee.

Es gab auch mal einen Song von Ihnen, "Der Adler" – noch ein interessanter Exkurs.

Das habe ich geschrieben. "Sitting on a bullet, thinking of power, every hour, being in space, controlling the world with a different face ..." Ein Freund von mir, Tom Dokoupil, hat mit mir gearbeitet. Sein Bruder ist Jiří Dokoupil, der Maler. Es gab auch einen Vertrag mit RCA, aber ich habe nur ein Lied gemacht. Das durfte ich bei Thomas Gottschalk in der Sendung vortragen, als Adler mit Federn in meinem Smoking. Ja, immer was Neues. Ich habe auch andere Stücke geschrieben, aber die wurden nie zu Videos.

Wäre das etwas, das Sie gerne noch machen würden?

Nee. Ich bin 80 Jahre alt, dann kann ich das ja im Rollstuhl machen und plötzlich aufspringen und tanzen ... nee, nee. Ist auch nicht meine Berufung – das ist Filmemachen. Es gibt bestimmt noch Filme, die ich machen werde, wo es Geschichten geben wird, die mich interessieren, faszinieren. Als Schauspieler will man ja etwas machen, was noch keiner gemacht hat, und das ist sehr schwer und wird immer schwieriger, weil es so viele begabte Schauspieler gibt. Die Klassiker wie Al Pacino und Robert de Niro habe ich bewundert, als die anfingen.

Aber es gibt eben auch nur einen Udo Kier.

Auf meine Art, natürlich. Es ist schwer zu glauben, aber ich bin auch nicht ehrgeizig. Es kommt alles, ohne dass ich das organisiere.

Es sind ja mittlerweile über 270 Film- und Fernsehrollen …

Ich sage immer: 100 sind schlecht, 50 kann man mit einem Champagner trinken, und der Rest sind gute Filme. Ich empfinde das auch als sehr positiv, wenn mich die Regisseure, mit denen ich arbeite, für das nächste Projekt wieder haben wollen und nicht sagen: "Um Gottes willen, der Udo Kier ist anstrengend."

Über den Gesprächspartner

  • Bekannt ist Udo Kier vor allem für seine exzentrischen Figuren. Für eigenwillige Außenseiter, verrückte und böswillige Charaktere. Man sah ihn in Hollywood-Produktionen wie "Blade", "Ace Ventura" oder "Armageddon", in Horrorstreifen wie "Halloween" und "Suspiria" – aber ebenso in Arthouse-Filmen von Lars von Trier ("Nymphomaniac", "Dogville"), Rainer Werner Fassbinder ("Lili Marleen") oder Wim Wenders ("Am Ende der Gewalt"); und vielfach auch in wüsten Provokationen von Christoph Schlingensief ("100 Jahre Adolf Hitler") oder Paul Morrissey ("Andy Warhols Dracula"). Viel Aufmerksamkeit erhielt er 2021 für das Drama "Swan Song", in dem er einen alternden Friseur und Drag-Performer spielt.
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