Zwischen Familienehre, Gesetz und erster Liebe: "Zerrissen" ist ein sehenswerter "Tatort" über eine ziemlich planlose Verbrecher-Sippe.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

In Krimis sehen Verbrecher-Sippen ja meist ziemlich gleich aus: Eine schmuckbehangene herrische Patriarchin im Hintergrund. Ein großspuriger Sohn, der die Geschäfte leitet und zu viele Mafia-Filme gesehen hat. Seine Kinder, die je nach Geschlecht gelangweilt aus der knappen Wäsche gucken oder übereifrig um Papas Gunst kämpfen. Und alle faseln ständig von Stolz und Ehre und Loyalität.

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Oma Ellinger (Maria Mägdefrau) fällt da ein bisschen aus der Rolle: Die alte Frau schlurft mit dem Rollator durch ihre Wohnung, und wenn sie auf die Toilette geht, muss Enkelin Julia ihr mit dem Klopapier helfen. Julia (Caroline Hellwig) trägt zwar kurze Shorts und ist zwar alles andere als ein Energiebündel, aber vom Typ verwöhnte Tochter ist sie weit entfernt. Ihr Vater sitzt im Knast, wo eine Thermoskanne mit Tee seine engste Vertraute zu sein scheint. Oma Ellinger ist weder auf ihn noch auf die Polizei gut zu sprechen. Wichtig ist, dass ihr jemand beim An- und Ausziehen helfen kann und ihr also nicht noch mehr Familienmitglieder genommen werden.

Zerrissen zwischen Verbrecherfamilie und Rechtsstaat

Die Familienbande, um die es im Stuttgarter "Tatort: Zerrissen" geht, haben also wenig zu tun mit den Klischees von reichen Goldkettchen-Clans. Der Film von Regisseur Martin Eigler, der zusammen mit Sönke Lars Neuwöhner ("Wolfsland") auch das Drehbuch geschrieben hat, interessiert sich vielmehr dafür, was Begriffe wie Stolz und Ehre und Loyalität mit einem 13-Jährigen machen, der sich ständig zwischen Verbrecherfamilie und Rechtsstaat entscheiden muss.

Denn im Mittelpunkt von "Zerrissen" steht David Ellinger (Louis Guillaume), der jüngere Bruder der volljährigen Julia. Seit Papa mit der Thermoskanne im Gefängnis sitzt, lebt David im Jugendheim. Seine Cousins Mikel (Oleg Tikhomirov) und Alan Maslov (Nils Hohenhövel) setzen den strafunmündigen Teenager gern als Wachposten bei ihren Raubzügen ein, von wegen Familie und Ehre und Loyalität.

Als bei einem Überfall auf einen Juwelier eine Kundin stirbt, richten die Kommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) ihre Aufmerksamkeit auf die Verbindung zwischen den Maslov-Brüdern und den Ellingers. Vor allem auf David.

Bedingungslose Unabhängigkeit oder Loyalität

Als sei dessen Leben nicht schon kompliziert genug: Bei den Maslovs liegen nach dem schief gelaufenen Raubzug die Nerven blank, von Davids Kooperation hängt viel ab. Aber der wiederum hängt mit schwärmerischer Begeisterung an seiner Betreuerin, der taffen Sozialarbeiterin Annarosa (Caroline Cousin). Die hält nicht viel von Familie und anderen Autoritäten. Bedingungslose Unabhängigkeit ist ihr Lebensmotto, und dazu will sie auch David "erziehen".

Weshalb sie auf die Kommissare nicht gut zu sprechen ist: Lannert und Bootz geben vor, David helfen zu wollen – aber nutzen sie ihn nicht genau so aus, wie seine Familie es tut? Lannert, der gezielt das Vertrauen des Jungen sucht, erhofft sich schließlich auch Davids Kooperation - um die Maslovs überführen zu können.

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David ist ein Junge auf der Suche nach einem Rollenvorbild

Die Cousins sind zwar beängstigend, aber irgendwie ja auch cool. Vom kumpelhaften Vater bekommt er beim Besuch im Gefängnis eine Warnung: "Wenn du die Familie aufgibst, bist du tot." Lass dich von niemandem benutzen, sagt Annarosa. An Davids Vernunft wird appelliert, sein Herz und sein Ehrgefühl – die Grenze zwischen Fürsorge und Manipulationsversuch ist nicht immer klar zu erkennen.

So spannend wie sensibel lotet der Krimi die Verbindungen und Kräfte aus, die an David zerren. "Zerrissen" ist ein eindringlicher, eher stiller "Tatort", auch wenn die Geschichte mit dramatischen Wendungen aufwarten kann und schon die notorisch schlechten Entscheidungen aller Mitglieder dieser planlosen Sippe den Adrenalinspiegel beim Publikum in die Höhe treiben. Aber trotz der Trostlosigkeit ist es ein optimistischer "Tatort", bei dem alle Beteiligten etwas über die Grenzen und Möglichkeiten von Familie lernen.

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