"Züri brennt" erzählt von Jugendprotesten der 80er Jahre und ihren tödlichen Folgen für die Gegenwart. Der neue "Tatort" aus der Schweiz überzeugt mit lässigem Selbstbewusstsein und zwei sturen Kommissarinnen.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Ein neuer "Tatort" aus der Schweiz, und was für ein Auftakt! Die Stadt ist neu, das Team ist neu und das Selbstbewusstsein groß. Die Unterhaltungen sind mehrsprachig, die Musik ist schweizerdeutsch. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man an das Ende des Luzerner Teams denkt.

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Als der Schweizer Rundfunk 2018 verkündete, seinen "Tatort" nach neun Jahren einzustellen, nannte die "Neue Zürcher Zeitung" das einen "Gnadenschuss" angesichts der mittelmäßigen Quoten und behäbigen Episoden. Dass die Folgen im Schweizer Dialekt gedreht und nachträglich synchronisiert wurden, half nicht.

Dieser Zürcher "Tatort" tut gar nicht erst so, als wolle er sich brav einreihen in die deutsche Sonntagabendtradition oder das stereotypische Bild von der begüterten Stadt an der Limmat pflegen. Er ist vielmehr eine stolze Einladung an "Tatort"-Fans, über den bundesdeutschen Krimitellerrand herauszuschauen. Auf eine Weltstadt, die ihren Flair weniger daraus bezieht, dass dort so viele Banken, Versicherungen und Millionäre ihren Sitz haben, sondern aus der Geisteshaltung ihrer Bewohner.

Schweizer "Tatort" mit neuen Ermittlerinnen

"Züri brännt" heißt die erste Folge in Anspielung auf den gleichnamigen Dokumentarfilm über die gewaltsamen Jugendproteste Anfang der 80er Jahre, die heftigsten, die die Stadt bis dahin gesehen hatte. Es geht gleich los mit einer brennenden Leiche. Und das Bild von Hitze, Energie und Reibung charakterisiert den ganzen Fall.

Das fängt schon mit den Ermittlerinnen an. Tessa Ott (Carol Schuler) stammt aus einer reichen, alteingesessenen Zürcher Familie und verdankt ihre neue Stelle als Profilerin bei der Kantonspolizei nur Beziehungen. Das jedenfalls vermutet Kollegin Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher).

Die elegant auftretende und erfahrene Handwerkertochter aus der französischsprachigen Westschweiz hat sich hochgearbeitet und vorher am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gearbeitet. Sie hält wenig von der jungen Kollegin, die ihr da an die Seite gesetzt wurde.

Daran ändert erst einmal auch die Tatsache nichts, dass Tessa ihren Job versteht und nichts von einer höheren Tochter hat. Sie hat sich früh von ihrem Elternhaus abgewendet, werden wir später erfahren. Ihre Loyalität gehört eher der Zürcher Straßen- und Hausbesetzerszene.

Die Dritte im Team ist Staatsanwältin Anita Wegenast (Rachel Braunschweig), leutselig im Auftreten, aber kompetent und ehrgeizig. Tatsächlich scheint sie bei Tessa Otts Einstellung ihre Finger im Spiel gehabt zu haben. Von deren Mutter erhofft sie sich Unterstützung auf dem Weg zur Bundesrichterin. Tessas Mutter ist Vorsitzende einer Partei, die die Tochter allerdings genervt als "Scheißverein" abtut.

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Doppelleben: Polizistin und Punk

Die verbrannte Leiche führt die Frauen zu dem Fall einer 1980 inmitten der Proteste verschwundenen Polizistin, die offenbar ein Doppelleben in der Punkszene führte. Und der Tote, stellt sich heraus, war Anhänger des Buddhismus. Ein sakrales Tattoo auf seinem Rücken weist ihn als "bösen Geist" auf der Suche nach Wahrheit aus.

Alles deutet auf einen tödlichen Feldzug gegen die Verdrängung hin, der zum Leitfaden der Episode wird. Raffiniert werden Zeitebenen in- und gegeneinander geschoben, und immer wieder tauchen Personen aus der Vergangenheit als Visionen in der Gegenwart auf - Geister, die die Lebenden nicht in Ruhe lassen wollen.

Das Drehbuch von Lorenz Langenegger und Stefan Brunner ist anspruchsvoll, und Regisseurin Viviane Andereggen verlangt vom Zuschauer höchste Aufmerksamkeit - fast ein bisschen zu viel für einen Sonntagabendkrimi. Wer nicht aufpasst, verliert schnell den Überblick darüber, wer da wer ist und mit wem wie zusammenhängt.

Doch auch bei entspannterer Betrachtung ist die Bildsprache atmosphärisch dicht. Viel Herbst, viel Laub, viel Vergänglichkeit - aber keine Klischees. Dieses Zürich ist ein vielschichtigerer, dunklerer Ort als die "heimliche Hauptstadt der Schweiz", die gern mit ihrer "hohen Lebensqualität" und der "herrlichen Lage" in den Bergen wirbt.

Schließlich ging es den Demonstranten 1980 auch um ein anderes Zürich: Eines, das nicht 60 Millionen Franken für die Renovierung des Opernhauses bewilligte und einem alternativen Jugendzentrum die Unterstützung verwehrte.

Sogar das vielzitierte Klischee von der Weltstadt, die eigentlich ein Dorf sei, weil jeder jeden kenne, verliert seine Heimeligkeit, wenn das in diesem Fall heißt, dass fast alle Beteiligten sich aus der Züri-brännt-Zeit kennen: Der Straßenpolizist Peter Herzog (Roland Koch) von damals ist jetzt der Leiter der Kriminalpolizei und Vorgesetzte von Ott und Grandjean.

Der gewaltbereite Brandstifter Simon Untersander (Michael Goldberg) leitet inzwischen als Chefredakteur eine große Zürcher Tageszeitung. Und Tessas älterer Mitbewohner Charlie, der die Unruhen als Fotograf begleitete, wird gar zum Hauptverdächtigen.

Wütend muss Ott mitansehen, wie unbarmherzig Isabelle Grandjean den drogenabhängigen Freund verhört. "Ich bin mir vorgekommen wie Milosevic. Sie ist gut, deine Madame Den Haag", sagt Charlie (Peter Jecklin) danach zur Freundin.

Komissarinnen auf Konfrontationskurs

Die beiden Kommissarinnen geraten ständig aneinander, weil Rebellin Tessa sich nichts vorschreiben lassen will ("Du bist nicht meine Chefin!") und Analytikerin Isabelle wenig anfangen kann mit der Emotionalität, mit der die unerfahrene Kollegin an die Fälle herangeht. "Sie oder ich!", lässt Grandjean auf dem Höhepunkt der Feindseligkeiten ihren Chef Peter Herzog wissen - und muss später selbst beschämt über ihr unprofessionelles Ultimatum lachen.

Überhaupt lacht Isabelle Grandjean sehr viel, ein befremdlicher Reflex der Einzelgängerin, mit unangenehmen Situationen umzugehen.

Natürlich passen die beiden Frauen überhaupt nicht zusammen. Natürlich werden sie lernen, sich zu respektieren und natürlich haben beide eine angedeutete Vorgeschichte, die sie nur noch interessanter werden lässt: Da ist zum Beispiel eine gewisse Zögerlichkeit Tessas im Umgang mit ihrer Dienstwaffe.

Und Grandjean hat in Den Haag einen Sohn zurückgelassen, aber eine makabre Fachkenntnis über Skelette mitgebracht. Und, damit wohl zusammenhängend, eine melancholische Bindungsangst.

Banal ist nichts am neuen Zürcher "Tatort"

Wir freuen uns jetzt schon auf die Entwicklung der beiden spröden Charaktere, denen relativ egal zu sein scheint, ob man sie mag oder nicht. Und natürlich mögen wir sie schon allein deshalb.

Und ja, geben wir es zu: Isabelle Grandjean mögen wir ein bisschen lieber, weil sie Hosenanzüge so wahnsinnig lässig tragen kann, weil sie diesen aparten Akzent hat und weil sie französische Sätze ins Gespräch wirft, die noch so banal sein können, aber sofort für ein gewisses Etwas sorgen.

Banal aber ist nichts am neuen Zürcher "Tatort", und das gewisse Etwas, das er mitbringt, ein absoluter Gewinn für die Reihe. Und ein Beispiel dafür, wie sehr ein Gemeinschaftsprodukt vom Selbstbewusstsein der Beteiligten profitieren kann.

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