Ein Mord mitten in einer militärischen Übungssimulation – und eine Welt, in der Realität und Fiktion verschwimmen. Im neuen "Tatort: Charlie" müssen die Münchner Ermittler Leitmayr und Batic undercover in eine bizarre Szenerie eintauchen, in der Zivilistendarsteller den Krieg nachspielen. Doch der Fall wirft nicht nur Fragen nach den Morden auf, sondern auch nach den Menschen, die sich freiwillig in dieses eigenartige Spiel begeben.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Ganz in der Nähe eines Nato-Übungsgeländes wird am frühen Morgen eine junge Frau tot in einem Geländewagen der US-Armee gefunden. Bald stellt sich heraus, dass sie auf dem Militärgelände gearbeitet hat: Fine (Katharina Ronja Brusa) war eine so genannte Zivilistendarstellerin auf dem Schlachtfeld, "Civilian on the Battle Field", kurz COB genannt: Komparsen, die während der Nato-Übungsmanöver die Zivilbevölkerung spielen, damit die Soldatinnen und Soldaten unter möglichst realistischen Bedingungen trainieren können.

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Dort beginnen die Kommissare Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Ivo Batic (Miroslav Nemec) ihre Ermittlungen – und finden in einem verlassenen Tunnel noch eine nackte Leiche: Zoran war ebenfalls COB. Und wie Fine wurde er mit mehreren Messerstichen getötet. Offenbar haben sich die beiden in der Nacht heimlich getroffen – es sieht alles nach einer Eifersuchtstat aus.

Um herauszufinden, wer so wütend auf das Verhältnis der beiden war, geht Batic undercover: Als angeblicher Ersatzmann für Zoran, der praktischerweise einen Polizisten spielte, mischt er sich unter die COB. Leitmayr ermittelt derweil offiziell, zusammen mit der Kollegin Jennifer Miller (Yodit Tarikwa) von der Militärpolizei.

"Tatort: München": Eigentlich sollte der Fall lieber davon erzählen

Es werde für einen Angriff aus dem Osten trainiert, erklärt Captain Miller den Kommissaren. "Die Skolgan" – der fiktive Feind – hätten die Dörfer besetzt, für die kommende Nacht sei eine Rückeroberungsoffensive der Nato geplant, "Häuserkampftraining". Alle Zivilisten tragen eine Weste wie beim Lasertag. Luca (Tim Seyfi), der für die Komparsen verantwortlich ist, wirft Batic die Weste über, zückt seine Laserpistole, schießt auf ihn und grinst: "Tot."

Es ist eine seltsame Welt, die dieser "Tatort" seinem Publikum eröffnet. Erwachsene, die mitten in Deutschland freiwillig Krieg spielen. Angeheuert von einer Komparsenagentur, um für ein paar Wochen als Lehrer, Händler, Pressefotografen oder eben Polizisten zu agieren. Gewohnt wird in extra für das Manöver aufgebauten Dörfern, die Namen wie "Übungsheim" tragen. Besetzte Zone in der Oberpfalz. Drehbuchautorin Dagmar Gabler hat in "Charlie" ihre eigenen Erfahrungen verarbeitet, die sie 2016 als COB sammelte. Und Regisseur Naso von Lancelot durfte während eines echten Nato-Manövers auf dem Übungsplatz Hohenfels nordwestlich von Regensburg drehen.

Eigentlich möchte man bei diesem "Tatort" lieber davon erzählen. Von Dagmar Gablers Erfahrungen, oder von den ungewöhnlichen Drehbedingungen, von denen der Regisseur in den Presseinformationen berichtet. Wie spontan man bei einem Dreh auf einem echten Übungsgelände während eines echten Nato-Manövers mit 6.000 Soldaten und Soldatinnen sein müsse, beziehungsweise sein dürfe. Wie beim Mittagessen an Bierbänken plötzlich Hubschrauber auftauchen, Darsteller Udo Wachtveitl sich hastig seine Kostümjacke überwirft und die Teller vom Tisch fliegen, um schnell eine Szene mit einem Hubschrauber in den Kasten zu kriegen: "Es war eher wie in einem Dokumentarfilm."

Ein Krimi ohne Tiefgang

Und genau das ist das Problem von "Charlie". Es ist eben kein Dokumentarfilm. Man wird das Gefühl nicht los, dass die Fakten interessanter wären als die Fiktion. Die spannenden Beweggründe der Menschen, die bei so einer Übung mitmachen, kann der Krimi nur anreißen: COB Mila (Dorka Gryllus) etwa, die Batic unter ihre Fittiche nimmt. Die Bosnierin hat bereits 28 solche Manöver hinter sich und therapiert damit ihre eigenen Kriegserfahrungen. COB Tomasz (Lasse Boje Haye Weber) freut sich auf die Action in der Nacht, wenn es "endlich losgeht". COB Maximilian (Lukas Turtur) genießt in seiner Rolle als "Polizeichef" seine Macht und die militärische Ordnung. Oder die "Manöver-Spotter" aus den echten umliegenden Dörfern, die in Tarnkleidung auf einem Hügel ihre Campingstühle und Teleskope aufstellen und beim Bier aufgeregt die Militärhubschrauber fotografieren: "Ein Chinook, ein Chinook!"

Es sind viele Menschen mit gebrochenen Biografien unter den COB, die in diesem makabren geschützten Raum ihre gefährlichen kleinen Macht- und Psychospiele spielen. Trotzdem ist "Charlie" langweilig, weil die Krimihandlung in ihrem Kern langweilig ist. Alles muss sich der ungewöhnlichen Kulisse unterordnen, doch die kann ja nicht richtig "mitspielen". Das Nato-Manöver geht natürlich vor. Man duldete das Kamerateam, aber außer als Gelegenheit für positive Publicity dürfte dem federführenden Pentagon der "Tatort" ziemlich egal gewesen sein.

Auch die hochpolitische Tatsache, dass hier während des Drehs 150 Kilometer nördlich von München, aktuell aber auch 1.500 Kilometer von einem echten Krieg im Osten entfernt quasi für einen russischen Angriffskrieg geübt wird, spielt keine Rolle. Es ist ein offenes Geheimnis, dass bei den Übungen der Feind, der immer einen fiktiven Namen trägt – wie die "Skolgans" in "Charlie" – an Russland angelehnt ist. 2017 machte Hohenfels einige Schlagzeilen, als bei der Komparsensuche russische Sprachkenntnisse ausdrücklich willkommen geheißen wurden. Die Partei der Linken protestierte gegen die Implikation eines Angriffs aus Russland.

In "Charlie" gibt es einen kurzen, allgemein gehalten Streit zwischen der pragmatischen amerikanischen Militärpolizistin und dem friedensbewegten Leitmayr, ansonsten könnte das Eifersuchtsdrama sich überall so oder so ähnlich abspielen – und hätte anderswo mehr Gelegenheit, sich zu entfalten. Hier rennen eben überall Soldaten herum, und ab und zu fliegt ein Hubschrauber durchs Bild. Und die Zivilisten spielen Pfadfinderlager unter erschwerten Bedingungen. "Dschungelcamp für Arme", sagt COB Max einmal, und das triffst es ganz gut. Nur eben mit Kantinenfutter und matschigen Äckern statt Würmern und Palmwedeln.