Der Magdeburger "Polizeiruf 110: Widerfahrnis" ist ein Ausnahme-Krimi. Welches Geheimnis hat das Leben der stummen Sarah zerstört?

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Das Wort "Widerfahrnis" steht nicht im Duden. Es ist ein schönes, altertümliches Wort, mit dem man sich philosophisch auseinandersetzen kann, aber am einfachsten ist es, wenn man sich an das dazugehörige Verb hält: widerfahren. Widerfahrnis das, was einem widerfahren ist: Etwas, das einem einfach passiert ist, das man nicht hat kommen sehen und auf das man keinen Einfluss hatte.

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Im Zentrum dieses Magdeburger "Polizeiruf 110" steht ein solches Widerfahrnis, und der Film erzählt davon in einer Weise, die gut zu diesem Wort passt: nachdenklich, melancholisch und sehr bewegend.

Absichtlich provozierte Fahrerflucht?

Kommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen) wird zu einem Verkehrsunfall gerufen. Schnell stellt sich heraus, dass die Frau im Laub neben der winterlichen Landstraße gar nicht tot ist. Schwer verletzt wird sie ins Krankenhaus gebracht, sie liegt im Koma.

Es handelt sich nicht um Mord, "nur" um Fahrerflucht. Das Kommissariat ist nicht zuständig. Aber Brasch lässt die Unbekannte nicht los. Als ob die eine Einzelgängerin sich in der Einsamkeit der anderen Einzelgängerin wiedererkennt. Nur der Vorname der Frau ist bekannt: Sarah. Was ist ihr widerfahren?

Ein Verkehrsunfall könnte ein Widerfahrnis sein. Er kann aus einem glücklichen Menschen eine Verunglückte machen. Doch anders als Brasch haben wir zu Beginn dieses "Polizeiruf" gesehen, wie es zu dem Unfall kam. Hat Sarah in das Schicksal eingegriffen? Ist sie in der Nacht selbst auf die einsame Landstraße getreten, in einer Kurve, die bekannt ist für Unfälle?

Ein Wohnwagen im Wald

Auf einem Waldweg ganz in der Nähe steht der Wohnwagen der Sexarbeiterin Dorota (Iza Kala). Sie hat Sarah auf ihrem letzten Weg begleitet. Die beiden Frauen haben zusammen eine Zigarette geraucht, bis sie einen Wagen kommen hörten. Sie haben sich voneinander verabschiedet, und Dorota ist zurückgelaufen.

Sie hat an ihrer Zigarette gezogen, das Licht der Scheinwerfer gesehen und die quietschenden Bremsen gehört, aber sie ist ruhig weiter gegangen. Zurück in den Wald zu ihrem Wohnwagen.

Als Brasch sie am Morgen befragt, lügt Dorota und gibt sich ahnungslos. Weil sie etwas über Sarah weiß. Vielleicht kennt sie Sarahs wirkliches Widerfahrnis. Dieser Unfall ist es nicht.

Schritt für Schritt verfolgt Brasch die Spuren, die zu dem Ereignis führten. Auch wir begleiten Sarah, und oft sind wir der Kommissarin ein paar Schritte voraus.

Kunstvoll wird eine tragische Geschichte freigelegt

Braschs Ermittlungen und Sarahs letzte Tage überlagern sich, gehen ineinander über. Kunstvoll verwebt "Widerfahrnis" die Zeitebenen und -perspektiven zu einem berührenden Einblick in Sarahs Vergangenheit. So führt ein Handy am Unfallort die Kommissarin zu der allein erziehenden Mutter Berna (Rona Özkan), die Sarah vor kurzem bei sich aufgenommen hat.

Da haben wir Sarah bereits weinend vor dem Haus stehen sehen, in dem Berna lebt. Haben erlebt, wie das Mitleid von Bernas kleiner Tochter Aylin (Soraya Maria Efe) sich um sie legte wie eine wärmende Decke.

Aylins Anteilnahme wird zu Bernas Anteilnahme, wird zu Braschs Anteilnahme, ist unsere Anteilnahme. Sarahs Widerfahrnis ist das Geheimnis, das in diesem "Polizeiruf" der Fall wird, den Brasch unbedingt lösen will.

Ein verdächtiger Star-Architekt

Als mit dem Magdeburger Star-Architekten René Tamm (Stephan Kampwirth) recht bald der Fahrer des Unfallwagens gefunden ist, beginnen wir zu ahnen, was Sarahs früheres Leben zerstört hat. Weniger fesselnd wird "Widerfahrnis" dadurch nicht. Es geht nicht um Tathergänge, Indizien und Erklärungen.

Es geht um Gefühle. Dieser "Polizeiruf" ist in mehrfacher Hinsicht ein sehr ruhiger Kriminalfilm. So vergeht fast eine Stunde, bevor wir Sarah sprechen hören, aber Worte sind angesichts von Darstellerin Mareike Sedls ausdrucksstarkem Gesicht auch nicht nötig. Und Claudia Michelsens emphatische Kommissarin ist der perfekte Spiegel.

Wie wir spürt sie Sarahs Leid. Es ist so groß, dass es die lachende Ehefrau und Mutter aus dem Familienfoto, das Sarah bei sich trug, in ein blasses, stummes Gespenst verwandelt hat. In einen Schatten ihrer selbst, der kraftlos durch ein Leben huscht, das Sarah nicht mehr will.

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Vom Tod als Schicksal und Erlösung

An diesem "Polizeiruf 110" stimmt einfach alles, die respektvolle Kamera zum Beispiel, das nüchterne Szenenbild, oder die zurückhaltende Maske Produktionsteam (Regie: Umut Dağ) und Darsteller haben aus der berührenden Geschichte der Drehbuchautoren Zora Holtfreter und Lucas Thiem einen so packenden wie anspruchsvollen Film gemacht.

In seinem Kern erzählt "Widerfahrnis" vom Tod als Schicksal und als Erlösung. Ganz ruhig und eindringlich, mit einer Intensität, der man sich trotz des Themas, trotz der tiefen Traurigkeit, die ihn durchzieht, nicht entziehen will.