Schaurig und gleichzeitig kurios ist die Prämisse von "Was Marielle weiß": Was würde passieren, wenn Kinder alles sehen und hören könnten, was ihre Eltern tun? Hauptdarsteller Felix Kramer teilt im Interview mit unserer Redaktion seinen persönlichen Blick auf den Film – und erklärt, was Doppelmoral für ihn heißt.
Dieser Film "ist eigen", sagt Felix Kramer über "Was Marielle weiß". Julia Jentsch und Kramer spielen darin ein Elternpaar, das plötzlich von der eigenen Tochter überwacht wird.
Bei der Berlinale in diesem Jahr feierte das deutsch-französische Werk von Regisseur Frédéric Hambalek Premiere, am 17.04. kommt es in die Kinos. Die Handlung entwickelt sich zu einem manipulativen Spiel, das unbequeme Wahrheiten ans Licht bringt und die Familienidylle ins Wanken bringt.
Im Interview mit unserer Redaktion spricht der "Dogs of Berlin"-Star über Doppelmoral, den sechsten Sinn und sein Verständnis von Privatsphäre. Außerdem erklärt der 52-Jährige, warum er keine klassischen Cappuccino-Fotos teilt, sein Blitzerfoto aber gepostet hat.
Herr Kramer, hatten Sie eigentlich Angst vor Ihrer Film-Tochter Laeni Geiseler? Sie spielt Marielle, die nach einer Ohrfeige plötzlich alles sieht und alles weiß: was ihre Eltern miteinander oder auf der Arbeit besprechen, wann sie lügen.
Felix Kramer: Nun ja, die Geschichte dreht sich um eine Tochter-Figur, deren kindlicher Blick sich langsam in einen ernsthafteren Blick verwandelt. In gewisser Weise müssen sich alle Eltern irgendwann mit dieser Entwicklung auseinandersetzen. Auf einmal werden sie von ihren Kindern mit Fragen und Themen konfrontiert, die nicht mehr so niedlich und mit Süßigkeiten oder Cornflakes wegzudiskutieren sind.

Glauben Sie an Telepathie?
Meiner Erkenntnis nach ist Telepathie ein bisschen was anderes. Telepathie bedeutet ja, die Gedanken anderer Menschen zu beeinflussen oder zu lenken. Ich glaube vielmehr an den sechsten Sinn. Dass es etwas gibt, was uns mit Leuten verbindet, die wir schon lange kennen.
Wie meinen Sie das?
Man denkt an eine Person, die man schon lange nicht mehr gesehen hat – und plötzlich trifft man sie an demselben oder am nächsten Tag zufällig auf der Straße wieder.
In dem Film wird gezeigt, was passieren würden, wenn sich die Machtdynamik innerhalb einer Familie umdreht. Greifen Eltern heutzutage zu sehr in die Privatsphäre ihrer Kinder ein – mit Blick auf Babyphones und GPS-Tracking?
Der Film hat mehrere Ebenen. Eine davon spielt in der Tat auf diesen Helikopter-Begriff an. Auf einmal steuert das Kind den Helikopter und gibt die Richtung vor. Wenn wir die im Film dargestellte Familie als Mini-Gesellschaft verstehen, ergeben sich weiterführende Fragen daraus: Wo fängt Öffentlichkeit an? Wie verändern wir uns, wenn wir wissen, dass wir überwacht und 24/7 bewertet werden?
Was hat sich verändert?
Früher ist man in die Öffentlichkeit gegangen, wenn man seine Wohnung oder sein Haus verlassen hat. Heute verlässt man seine Privatsphäre, sobald man sein Smartphone einschaltet.
"Wir bekommen im Alltag ohnehin so viele Informationen und Impulse, dass ich nicht auch noch meinen Cappuccino und mein Käsebrötchen hinzufügen muss."
Sie gehören zu den Personen des öffentlichen Lebens, die ihr Privatleben weitestgehend bedeckt halten. Warum ziehen Sie diese Grenze?
Mir geht es dabei weniger darum, Grenzen zu ziehen. Meiner Meinung nach bekommen wir in unserem Alltag ohnehin schon so viele Informationen und Impulse, dass ich nicht auch noch meinen Cappuccino und mein Käsebrötchen hinzufügen muss. Wenn etwas haltbar bleiben soll, dann behalte ich es für mich.
Manchmal hilft es, sich an seine Kindheit zurückzuerinnern. Wenn man insgeheim einen Wunsch hatte, dann behielt man diesen für sich – in der Hoffnung, dass er irgendwann in Erfüllung gehen wird. Ist es denn wirklich nötig, permanent seine privaten Dinge zu veräußern?
In welchen Situationen fällt Ihnen das negativ auf?
Ein Beispiel: Wenn ich mit dem Zug fahre, versuche ich, nicht zu telefonieren. Mich macht es fertig, wenn ich eine halbe Stunde lang Zuhörer eines Gesprächs einer anderen Person bin. In der Regel bleibt es ja auch nicht dabei. Nach dem einen Gespräch wird der nächste Bekannte oder Verwandte angerufen und dieselbe Geschichte noch einmal erzählt. Ich finde das unerträglich.
Ein Foto Ihres Cappuccinos teilen Sie nicht mit der Öffentlichkeit. Ihr Blitzerfoto aus dem vergangenen Jahr haben Sie aber gepostet. Was ist der Unterschied?
Die Bildsprache ist hier eindeutig. Im Gegensatz zu den klassischen, gut ausgeleuchteten Insta-Motiven ist mein Blitzerfoto schwarz-weiß und einfach so "dahingerotzt". Das fand ich in dem Moment ganz witzig. Ich wurde in kürzester Zeit zweimal hintereinander geblitzt. Jetzt hoffe ich natürlich, dass ich in Zukunft keine weiteren Fotos dieser Art mehr posten muss (lacht).
Zurück zum Film: Sobald Kinder Kraftausdrücke verwenden, gehen Eltern sofort dazwischen. Dabei sind Erwachsene oft nicht besser, wenn ihre Kinder nicht in der Nähe sind. Deckt Marielle diese Doppelmoral schonungslos auf?
Ich glaube, ja. Doppelmoral ist der richtige Begriff. Diese Familie lebt in einem gepflegten Haus und hat E-Autos in der Garage stehen. Sie ist in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt. Und doch täuscht der erste Eindruck: Kraftausdrücke fallen eben nicht nur in Familien, die in sozialen Brennpunkten leben.
Wann sind Eltern aus Ihrer Sicht Vorbilder für ihre Kinder?
Wenn sie zu den Dingen stehen, die sie falsch gemacht haben. Es geht darum, authentisch zu sein. Wer meint, fehlerfrei zu sein, betreibt Doppelmoral. Fehlerfrei gibt es nicht.
"Jeder große Film hat irgendeine Schwachstelle."
Sie haben bereits in internationalen Produktionen mitgewirkt, unter anderem in "King’s Land" an der Seite von Mads Mikkelsen. Ist "Was Marielle weiß" mutiger als andere deutsche Filme, was die Dialoge und Ebenen betrifft?
Es stimmt, dieser Film überzeugt mit seiner Komik, Vielfalt und seinem besonderen Ton, den der Autor getroffen hat. "Was Marielle weiß" ist sehr eigen. Von Filmen wie diesen gibt es nicht so viele. Aber wer bin ich, der über die Qualität der deutschen Filmbranche urteilen soll?
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass jeder Film, der es ins Kino schafft, Respekt verdient hat. Weil ich weiß, wie viel Mühe es macht, überhaupt so weit zu kommen.
Was würden Sie sich wünschen?
Dass den Dingen eine Chance gegeben wird. Vielleicht sollte es weniger darum gehen, was man gerne sehen würde. Wir sollten versuchen, das zu sehen, was da gezeigt wird. Natürlich gibt es das große amerikanische Kino, aber auch andere Länder wie Deutschland oder Frankreich haben ganz tolle, talentierte Leute.
Man darf das ruhig mal feiern, anstatt immer das Haar in der Suppe zu suchen. Jeder große Film hat irgendeine Schwachstelle. Insofern wünsche ich mir, dass wir großzügiger mit unseren Künstlerinnen und Künstlern umgehen.
Über den Gesprächspartner
- Felix Kramer ist ein deutscher Schauspieler, der 2003 in dem Medizin-Thriller "Anatomie 2" seine erste größere Rolle übernahm. Von 2016 bis 2019 ermittelte der in Ost-Berlin geborene Darsteller als Hauptmann Furrer im "Zürich-Krimi". Kramer spielte in den ersten beiden deutschen Netflix-Originals, "Dark" und "Dogs of Berlin", mit.