Seit über 100 Tagen herrscht Krieg in Nahost. Jonathan Crickx, Kommunikationschef von UNICEF Palästina, ist in den Gazastreifen gereist, um sich ein Bild von den Zuständen vor Ort zu machen.

Das Video ruckelt, der Ton hängt hinterher – doch die Internetverbindung hält überraschenderweise stand: Jonathan Crickx, Sprecher von UNICEF Palästina, befindet sich während des Videointerviews mit unserer Redaktion in Rafah im Gazastreifen.

Von dort berichtet er über den Alltag der Kinder in Kriegszeiten, schildert die Probleme bei der Verteilung von Hilfsgütern und erklärt, was ihm trotz all des Leids vor Ort dennoch Hoffnung gibt.

Herr Crickx, wo befinden Sie sich in diesem Moment?

Jonathan Crickx: Ich bin vor drei Tagen im Gazastreifen angekommen und bin momentan in Rafah.

Befinden Sie sich an einem sicheren Ort?

Es gibt im gesamten Gazastreifen keinen einzigen Ort, der sicher ist.

Gab es Situationen, in denen Sie Angst um Leib und Leben hatten?

Während meiner Zeit hier ist keine Bombe neben mir explodiert, ich habe nie in einer Schusslinie gestanden. Doch man hört regelmäßig Explosionen, man ist ständig in Alarmbereitschaft. Wie gesagt: Niemand ist im Gazastreifen sicher. Und es fühlt sich auch niemand sicher.

Es gibt im gesamten Gazastreifen keinen einzigen Ort, der sicher ist.

Jonathan Crickx, Sprecher von UNICEF in Palästina

Wie ist die Lage vor Ort in Rafah?

Es ist bedrückend. Früher haben in Rafah ca. 250.000 Menschen gelebt, laut aktuellen Schätzungen sind es derzeit über 1,3 Millionen. Immer mehr Palästinenserinnen und Palästinenser fliehen in den Süden des Gazastreifens nach Rafah. Es gibt nicht genügend Essen, nicht ausreichend sauberes Wasser und es fehlt an Sanitäranlagen. Und wo man hinsieht: Überall sind Zelte – provisorisch zusammengebaut aus Dingen, die die Menschen auf der Straße und in den Trümmern gefunden haben, um sich ein wenig vor Wind und Wetter zu schützen. Vor allem für die Kinder ist es eine schreckliche Situation.

Ein palästinensisches Mädchen ist am 23. Januar 2024 in einem behelfsmäßigen Zeltlager in Rafah zu sehen. © dpa/AP/Fatima Shbair

Nahrung, Wasser, Medikamente – es fehlt an allem

Gibt es in Gaza trotz Krieg so etwas wie einen Alltag?

Für viele Menschen und vor allem auch Kinder ist es zum Alltag geworden, nach Essen und Trinkwasser zu suchen. Da die Preise für Obst und Gemüse vier- bis fünfmal so hoch wie vor Kriegsbeginn und somit für viele unbezahlbar geworden sind, ist das einzige Nahrungsmittel vieler Familien Brot. Es fehlt an Nahrung und durch die einseitige Ernährung natürlich auch an Nährstoffen, insbesondere bei Kindern unter fünf Jahren ist die Gefahr einer Mangelernährung hier sehr hoch.

Wie unterstützt UNICEF die Menschen im Gazastreifen?

Unsere Priorität liegt momentan bei lebenswichtigen Hilfsgütern wie Spezialnahrung, Trinkwasser, Medikamente, Hygieneartikel und Material für Sanitäranlagen. Außerdem verteilt UNICEF warme und regensichere Kleidung an Kinder. Es regnet hier aktuell sehr viel, nachts wird es kalt.

Vor welchen Herausforderungen steht man bei solchen Hilfseinsätzen?

Zum einen sind viele Teile des Gazastreifens komplett abgeschottet. Laut aktuellen Schätzungen befinden sich beispielsweise noch ca. 300.000 Menschen im Norden des Gazastreifens. Die Menschen dort sind ebenfalls dringend auf Hilfe angewiesen, doch wir haben keine Möglichkeit, sie zu erreichen. Zudem kämpfen wir sehr oft mit Kommunikationsproblemen. Im Gazastreifen fällt immer wieder die gesamte Internet- und Mobilfunkkommunikation aus. Humanitäre Helferinnen und Helfer müssen allerdings im dauerhaften Austausch zueinander stehen, um beispielsweise Hilfslieferungen zu koordinieren oder mit Krankenhäusern in Kontakt zu treten. Ein weiterer Punkt: fehlender Treibstoff. Die Hilfsgüter werden mithilfe von Trucks in den umliegenden Gebieten an Menschen in Not verteilt – allerdings gibt es nicht genug Treibstoff für alle Trucks, was die Arbeit erschwert und enorm verlangsamt.

UNICEF fordert sofortigen Waffenstillstand

Sie werden den Gazastreifen in wenigen Tagen wieder verlassen. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Hilfe einen Unterschied macht oder fühlt es sich bei so viel Leid eher wie ein Tropfen auf den heißen Stein an?

Ich bin davon überzeugt, dass jede Hilfe einen Unterschied macht. Durch die Lieferung von Trinkwasser und Spezialnahrung sowie Medikamenten und Verbandszeug versucht UNICEF das Leid der Menschen zu lindern, auch wenn man natürlich bei weitem nicht alle Menschen in Not erreicht. Interviews wie dieses hier sind auch wichtig, damit die Bevölkerung in Gaza und ihr Leid mehr in die Öffentlichkeit rücken. Die humanitäre Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist wirklich katastrophal. Es gibt wohl kaum ein Kind in Gaza, das noch keinen körperlichen oder psychischen Schaden durch den Krieg genommen hat. Um den Menschen und vor allem den Kindern im Gazastreifen zu helfen, braucht es deswegen einen sofortigen und langanhaltenden Waffenstillstand, außerdem müssen Grenzübergänge für einen sicheren, dauerhaften und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe geöffnet werden.

Gibt es trotz all dem Leid vor Ort etwas, das Ihnen Hoffnung macht?

Ich sehe viele humanitäre Helferinnen und Helfer, die rund um die Uhr alles geben, um die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu unterstützen und vor allem das Leid der Kinder zu lindern. Das macht mir ein wenig Hoffnung.

Über die Person

  • Jonathan Crickx arbeitet seit 2017 bei UNICEF. Viele Jahre setzte er sich für die Sichtbarkeit der UNICEF-Aktivitäten in Ägypten ein, seit Februar 2023 ist er Kommunikationschef von UNICEF Palästina.

Verwendete Quellen

  • Gespräch mit UNICEF-Sprecher Jonathan Crickx am 26. Januar 2024
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