Seit genau zwei Jahren herrscht im Sudan schon Krieg. Der Konflikt bekommt international nur wenig Aufmerksamkeit. Dagegen arbeitet eine ehemalige Springer-Vorständin, die sich nun ehrenamtlich dafür einsetzt, dem Sudan und seinen Menschen eine Stimme zu geben.
Der Tag, der Niddal Salah-Eldins Leben für immer veränderte, begann mit Blumen. Es war der 15. April 2023 und sie erhielt Geschenke und Glückwünsche zu ihrem Geburtstag. Kurz darauf erreichten sie beunruhigende Nachrichten aus ihrem Heimatland Sudan. Familienmitglieder berichteten von Angriffen und Schüssen in der Hauptstadt Khartum. Das, was lange undenkbar gewesen war, wurde Wirklichkeit. Es war der Beginn der größten humanitären Krise weltweit.
Im Vorstand von Axel Springer, entschloss sich Salah-Eldin Anfang 2024 dazu, spätestens Ende des Jahres einen großen Schritt zu gehen: den Vorstand zu verlassen und sich für die Millionen Menschen im Sudan, die angegriffen werden oder aus ihrem Zuhause fliehen müssen, einzusetzen. Im Interview erzählt sie, wie der 15. April ihr Leben veränderte, welche Erfolge sie bisher zu verzeichnen hat und wieso Deutschland sich darum bemühen sollte, diesen Krieg zu beenden.
Sie haben heute Geburtstag, herzlichen Glückwunsch! Vor zwei Jahren haben Sie Ihren Geburtstag ebenfalls gefeiert, als Sie immer wieder Nachrichten von Ihrer Familie bekamen, keineswegs nur Glückwünsche. Was hat Ihre Familie Ihnen da mitgeteilt?
Ich hatte bis zu diesem Moment einen wunderschönen Geburtstag, mit vielen Blumen, Geburtstagsgrüßen, Umarmungen. Als mich die Nachrichten erreichten, war klar, dass etwas Beispielloses passierte, mitten in der Hauptstadt des Sudans kam es zu Schüssen. Die wahren Konsequenzen dieses Tages haben wir erst in den Wochen und Monaten danach gespürt. Deswegen ist für mich der 15. April 2023 ein Tag, den ich in meinem Leben nicht mehr vergessen werde. Es wird immer eine Zeit vor dem 15. April und nach dem 15. April 2023 für mich geben.

Man kann sich so eine Situation kaum ausmalen, die eigene Familie so in Gefahr zu wissen. Viele Menschen denken, dass Ihnen so etwas niemals passieren wird. Wann versteht man, dass es wirklich ernst ist?
Meine Verwandten und auch ich hätten es nicht für möglich gehalten, dass es mal Krieg in den Straßen von Khartum geben würde. Im Sudan gab es oft Krieg, der war aber meistens anderswo. Die Menschen, auch meine Familie, reagierten alle ganz unterschiedlich. Einige packten ihre Sachen in der Erwartung, in ein paar Tagen zurückzukehren. Aus diesen paar Tagen wurden zwei Jahre. Andere sind überstürzt abgereist, konnte kaum etwas mitnehmen, mussten zum Beispiel persönliche Unterlagen wie Zeugnisse zurücklassen.
Sie waren zu diesem Zeitpunkt auf dem vorläufigen Höhepunkt Ihrer Karriere: Vorständin bei Axel Springer, unter anderem zuständig für die KI-Offensive des Unternehmens. Und dann haben Sie sich im letzten Jahr dazu entschlossen, Ihren Posten zu verlassen und ins Ehrenamt zu wechseln. Wann war der Moment, in dem Sie wussten, dass Sie etwas tun müssen?
Das Leben ist kurz und manchmal muss man Prioritäten anders setzen. Mir war schon in den ersten Monaten nach Kriegsausbruch klar, dass etwas Größeres auf uns zukommt. Ich wollte nicht als alte Dame irgendwann auf mein Leben zurückblicken und mir vorwerfen, dass ich nicht genug getan habe. Und da habe ich mir die Frage gestellt: Wer will ich mal gewesen sein?
Und wer wollen Sie mal gewesen sein?
Jemand, der Verantwortung übernimmt. Ich nutze meine Freiheit und übernehme gesellschaftliche Verantwortung. Das, was in Sudan passiert, das lässt mich nicht kalt. Manchmal klopft das Schicksal an die Tür und wir müssen uns entscheiden, ob wir diese Tür öffnen wollen oder das Klopfen ignorieren - und uns das später möglicherweise vorwerfen. Es gibt diesen schönen Spruch aus dem Talmud, wer nur ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt. Mir ist völlig klar, dass ich nicht 30 Millionen Menschen retten kann. Aber jedes einzelne Menschenleben, jede Perspektive, die geschaffen werden kann, das ist für mich ein Erfolg.
"Was soll aus diesen Kindern denn mal werden? Das lässt mir keine Ruhe."
Was bedeutet es für Sie, diese Verantwortung zu übernehmen?
Man kann Verantwortung auch dann übernehmen, wenn man nicht verantwortlich für die Ursachen ist. Ich habe die Entscheidung, mich dieser Sache für mindestens ein Jahr zu widmen, noch nicht eine einzige Sekunde bereut. Da sind 16 Millionen Kinder, die nicht nur ihr Zuhause, sondern ihre gesamte Zukunft verloren haben. Das sind mehr als alle Kinder in Deutschland zusammen. Was soll aus diesen Kindern denn mal werden? Das lässt mir keine Ruhe.
Sie übernehmen als Einzelperson Verantwortung, aber wie sieht es in der Politik aus? Haben Sie das Gefühl, dass sich der Sudan auf der politischen Agenda wiederfindet?
Die derzeitige politische Lage könnte für den Sudan nicht schwieriger sein. Es gibt global viele Krisen und eine Neuordnung der transatlantischen und europäischen Beziehungen. Die Gesamtgemengelage ist kompliziert und die politischen Akteure sind mit diesen Themen beschäftigt. Das wiederum heißt, dass viel von der Aufmerksamkeit für den Sudan abhandenkommt. Aber mir ist eines ganz wichtig: Jenseits von der persönlichen Betroffenheit, die ich jetzt zum Beispiel habe, gibt es viele objektive Gründe dafür, wieso man jetzt auf den Sudan schauen sollte.
Welche Gründe sind das?
Es ist im Eigeninteresse Europas, dass die Lage in der Region nicht weiter eskaliert. Im Sudan werden auch Deutschlands und Europas Interessen verhandelt. Viele Staaten profitieren von diesem Krieg. Im Sudan geht es immer auch um Gold, das ist der größte Fluch, aber auch der größte Segen des Landes. Russland profitiert beispielsweise von gestohlenem sudanesischem Gold und finanziert damit den Krieg gegen die Ukraine, auch die Vereinigten Arabischen Emirate mischen mit und liefern Waffen. Russland plant zudem gerade im Sudan seinen ersten Marinestützpunkt in Afrika und könnte damit das Rote Meer kontrollieren. Da sollten wir aufhorchen. Insbesondere jetzt, wo sich die Ost-West-Beziehungen neu sortieren.
"Es braucht jetzt mehr diplomatische Anstrengungen, mehr Aufmerksamkeit für den Konflikt und mehr humanitäre Hilfe."
Was wünschen Sie sich von der Bundesregierung?
Ich finde, dass wir in Deutschland und Europa nicht naiv sein dürfen. Da entsteht jetzt ein Fenster für Verhandlungen. Andere Akteure werden die Gelegenheit gerne nutzen. Und das wird aus meiner Sicht kein gutes Ende nehmen. Weder für den Sudan noch für Deutschland, für Europa oder die Welt. Mein Appell an die neue Bundesregierung ist, Führung zu übernehmen, sich mehr um den Sudan zu kümmern. Und zwar, wenn schon nicht aus humanitärem Interesse, zumindest aus Eigeninteresse. Es braucht jetzt mehr diplomatische Anstrengungen, mehr Aufmerksamkeit für den Konflikt und mehr humanitäre Hilfe.
Lassen Sie uns über Ihre neue Arbeit sprechen, das soziale Jahr, das Sie nun angetreten haben. Würden Sie sich als Aktivistin bezeichnen?
Nein, ich bin eine Top-Managerin, die in den nächsten Jahren ihren Fokus aus familiären Gründen verschiebt. Ich habe mir im Vorfeld viele Gedanken darüber gemacht, wie ich das Ganze angehen möchte und mich entschieden, zunächst keine eigene Organisation zu gründen, sondern lieber die zahlreichen tollen Organisationen, die es schon gibt, zu unterstützen.
Wie sieht diese Unterstützung aus?
Ich habe mein Engagement in drei Felder unterteilt. Mein erster Fokusbereich ist die Unterstützung meiner erweiterten Familie. Ich setze mich dafür ein, dass diejenigen, die ihr Zuhause verloren haben, nicht auch noch ihre Zukunft verlieren. Ich helfe auch in den Nachbarländern des Sudan, wohin viele geflohen sind. Konkret heißt das unter anderem: Unterstützung bei Job- und Wohnungssuche, Plätze für Stipendien oder Aus- und Weiterbildungen.
Der zweite Fokusbereich ist die Unterstützung von lokalen Grassroots-Initiativen. Das sind Gruppen, die vor Ort unterwegs sind und Menschen direkt helfen. Diese Gruppen nennen sich Emergency Response Rooms, ERR. Das sind freiwillige und oft aus dem Ausland finanzierte Initiativen, bei denen Menschen, oft dank finanzieller Unterstützung aus dem Ausland, schauen, wie sie vor Ort helfen können. Und das ist schnell, unkompliziert und unbürokratisch.
Haben Sie ein Beispiel für so eine Gruppe?
Die medizinische Infrastruktur im Land ist zusammengebrochen, aber es gibt natürlich einen riesigen Bedarf an medizinischer Versorgung. Dann schließen sich, ganz konkret, drei Chirurgen zusammen, die ja ohnehin nicht mehr arbeiten können, weil es ihr Krankenhaus nicht mehr gibt, und operieren mithilfe von gespendetem Equipment und mithilfe ihrer Handytaschenlampen Menschen. Unter den widrigsten Bedingungen. Es gibt auch größere Organisationen, wie die sudanesisch-amerikanische Ärztevereinigung. Die machen regelmäßig Spendenaufrufe und dadurch und durch verschiedene Netzwerke von sudanesischstämmigen Menschen ist es jetzt gelungen, ein Krankenhaus wieder aufzubauen. Mit diesen ERRs konnte bereits Millionen von Menschen geholfen werden. Das ist ein toller Erfolg, aber das allein reicht nicht.
Was ist der letzte Fokusbereich?
Das ist meine Zusammenarbeit mit ausgewählten Hilfsorganisationen, wie zum Beispiel UNICEF oder One, mit denen ich im engen Austausch bin. Hier ist mir neben humanitärer Unterstützung besonders das Thema Bildung wichtig. Das war für meine Familie der Schlüssel für ein besseres Leben. Ich sehe viele Möglichkeiten, wie man zwischen den Grassroots-Initiativen lokal und den globalen Hilfsorganisationen noch stärkere Brücken bauen kann.
Wie könnte so etwas aussehen?
Zum Beispiel, indem man die Initiativen verbindet und die Kräfte bündelt. Mein Engagement reicht von Beratung der Top-Ebene von Organisationen hin zu Unterstützung vor Ort, von Hilfe bei Veranstaltungen zur Aktivierung meines sehr guten Netzwerkes. Das wird sehr dankend angenommen, weil ich ohne eigene Agenda unterwegs bin. Mein einziges Anliegen ist es, einen Unterschied für die Menschen im Sudan zu machen. Insbesondere für die Frauen und Kinder, die ja überproportional vom Krieg betroffen sind.
Wir haben jetzt viel über den Sudan als Kriegsschauplatz gesprochen. Aber lassen Sie uns dieses Land auch einmal anders betrachten. Was sind Ihre schönsten Erinnerungen an den Sudan?
Ich habe mehrere. Die eine ist eine meiner ersten Erinnerungen, Ich erinnere mich als Kleinkind mit meiner Oma im Garten gespielt zu haben, das ist der Garten, in dem ich Laufen gelernt habe. Ich war umringt von Familienmitgliedern, ich erinnere mich an die Palmen und daran, barfuß über den Rasen direkt in die Arme meiner inzwischen verstorbenen Oma zu laufen. Das zweite ist eine Reise in den Sudan mit meinen Freundinnen und Freunden aus Deutschland vor knapp zehn Jahren. Ich bin so froh, dass sie dieses Land, mein Land, noch sehen konnten, bevor es zerstört wurde.
Zur Gesprächspartnerin:
- Niddal Salah-Eldin (39) ist eine im Sudan geborene und in Deutschland aufgewachsene Top-Managerin. Sie ist Kuratoriumsmitglied und Beirätin von "Reporter ohne Grenzen" und "Startup Teens". Ende 2024 legte sie ihre Tätigkeit als Vorständin von Axel Springer nieder, um sich für die Menschen im Sudan und ihre eigene betroffene Familie engagieren zu können.