Sven Hannawald wird am 9. November 50 Jahre alt. Zu seinem runden Ehrentag haben wir mit der deutschen Skisprung-Legende vor allem über mentale Gesundheit gesprochen.
Sven Hannawald hat Geschichte geschrieben, als er 2002 als erster Skispringer die Vierschanzentournee mit Siegen in allen vier Wettbewerben gewann. 2005 beendete er seine Karriere aufgrund eines Burnouts. Nun feiert er seinen 50. Geburtstag.
Herr
Sven Hannawald: Ich merke, dass der Körper nicht mehr das ist, was er einmal war. Ich empfinde das Älterwerden aber als schön, weil ich mit offenen Augen herumlaufe und immer wieder schöne und positive Beispiele sehe, wie schön Alter sein kann. Die Zahl 50 ist für mich noch zu groß, weil ich mich jünger fühle. Ich bin aber keiner, der sagt, dass er sich deswegen von seinem körperlichen, geistigen und sportlichen Leben verabschiedet.
Sind Sie jemand, der sich viele Gedanken über das Leben macht und immer wieder alles auf den Prüfstand stellt?
Ich gleiche immer den Ist-Zustand ab. Das habe ich gelernt und dementsprechend bin ich in täglicher Konversation mit meinem Inneren. Ich habe mich in 50 Jahren so gut kennengelernt, dass ich keine App für mich brauche, die mir sagt, wie ich besser vorwärtskomme. Ich habe ein Gefühl für mich und dem vertraue ich weiterhin, gefühlt von Jahr zu Jahr noch intensiver.
Würden Sie sagen, dass Sie das durch Ihren Burnout auf eine harte Art und Weise lernen mussten?
Perfektionismus und Ehrgeiz wurden mir in die Wiege gelegt. Ich habe mich viele Jahre lang gefragt, wo ich den Drang herhabe, alles so perfekt wie möglich zu machen und dann auch nicht locker zu lassen. Es lag in der Natur der Sache, dass ich diese Erfahrung mit dem Burnout machen musste, um die Lehren fürs weitere Leben daraus ziehen zu können. Ich mache Dinge auch heute noch richtig oder gar nicht, aber ich musste lernen, dass ich dabei Regeln einhalte. Und dann macht es Spaß, mich in Dinge reinzusteigern, mir Stress zuzufügen und am Ende trotzdem glücklich und ausgeglichen zu sein. Ich empfinde mein Leben als glücklich.
Das hört sich danach an, dass Sie rückblickend nichts bereuen oder anders machen würden?
Wichtig ist, dass man aus allem lernt. Denn das Schöne ist, dass man, wenn man Fehler gemacht hat, etwas ändern kann und in den meisten Fällen danach total strahlt, weil man einen Weg gefunden hat, der herausgeführt und sich gut angefühlt hat. Das sind die Dinge, die für mich Leben beschreiben. Ich würde mich nie für ein Leben entscheiden, in dem täglich die Sonne scheint. Sackgassen oder Einbahnstraßen machen das Leben lebenswerter, weil man agieren muss, weil man Lösungen finden muss. Und da komme ich ins Spiel mit meinem Lösungswahn.
Um Lösungen ging es auch bei Ihrem Burnout. Wie hat sich das damals bemerkbar gemacht?
Das ist das Schwierige bei psychischen Überforderungen, Überlastungen oder Erkrankungen: Die kündigen sich nicht an wie Erkältungen, das ist ein schleichender Prozess, und die Anfänge ignoriert man. Doch da man weiter in seinem Ablauf bleibt, forciert man die Tragweite. Man kommt nicht mehr aus der Situation heraus, weil man sich selbst nicht eingesteht, dass es zu viel ist, weil man vorher immer wieder Lösungen gefunden hat. Es geht nur dann, wenn man es einsieht oder es gegen die Wand fährt.
Sie haben gemerkt, dass das alles nicht gesund war, aber lange auch nicht gewusst, wie die Diagnose war, weil die Ärzte es nicht feststellen konnten. War die Diagnose dann eine Belastung oder eine Befreiung?
Die Diagnose war für mich eine Befreiung, weil ich bis dahin anderthalb Jahre lang bei jedem Arzt war, der etwas Neues kontrollieren konnte, in der Hoffnung, dass sie irgendwas finden, dass ich dann ablegen kann, um wieder fit zu werden für mein Skispringen. Und zur damaligen Zeit gab es das Thema mentale Gesundheit nicht. Ich habe nichts zu lesen gehabt, wo ich mich selbst wiedergefunden hätte.
Wie war der Prozess anschließend? Da haben Sie wahrscheinlich eine Menge über sich gelernt, auch über die Krankheit. Wie schwierig war das?
Es ging vor allem darum einzusehen, dass es zu viel ist. Ich hätte mich vorher mal rausziehen sollen für ein Jahr. Dann hätte ich es vielleicht geschafft. Aber es war immer so, als ob ich den kleinen Sven an der Hand halte und hinter mir herziehe, weil ich mit meinen Aufgaben so eingebunden war. Die musste ich erledigen, sonst hatte ich keinen Erfolg. Und ich konnte mich nicht um den kleinen Sven kümmern. Der Abstand zwischen dem erfolgsorientierten und arbeitenden Ich und dem Gefühls-Ich wird dann so riesig, dass es dich zerreißt. Und das macht dich am Ende kaputt.
Wie hart war der Moment, als Ihnen klar war, dass Sie Ihre Karriere beenden müssen?
Das war der schlimmste Tag für mich. Aber ich weiß heute, dass es die richtige Entscheidung war. Alles andere hätte keinen Sinn gemacht.
War auch das ein kontinuierlicher Prozess?
Ja, ich habe damals gelernt, dass keine Schnellschüsse funktionieren und man ein Gefühl dafür braucht, wie der Körper tickt. Und dann irgendwann einsehen zu müssen, dass es nicht mehr geht, war hart. Aber ich hätte mich sonst irgendwann wieder in die Bredouille gebracht.
Was verbinden Sie heute mit dem Skispringen?
Ich habe den Abstand, dass ich mich nicht mehr als Aktiver sehe. Das ist ein entscheidender Vorteil. Aber wenn ich heute die Jungs sehe, wie sie so leicht herumfliegen, das hat schon was. Ich vermisse es, aber nicht mehr so, dass ich traurig bin, sondern ich schwelge dann eher in Erinnerungen, wie es früher war und genieße dabei die neue Generation.
Sie werden immer noch auf Ihren historischen Tournee-Triumph angesprochen. Welchen Stellenwert hat der für Sie heute?
Er ist das, was mir geblieben ist. Jeder Schanzenrekord, der mir genommen wurde, hat mir wehgetan. Ich hatte zwar Burnout und musste früher mit dem Springen aufhören, aber der Tournee-Triumph wird mir immer bleiben. Der kleine Sven wollte immer die Tournee gewinnen. Das habe ich geschafft.
Wie haben Sie es nach dem Burnout zurück ins Leben geschafft?
Das brauchte Zeit. Da gibt es keine Formel, da gibt es auch keine App und auch keinen Social-Media-Star, der das hinter sich hat. Die Hauptarbeit war das Aufarbeiten der Gefühls-Ebene. Das Kümmern um das innere Ich, um das Gleichgewicht. Die Gefühls-Ebene gibt einem die Energie, die Gefühls-Ebene gibt einem das klare Signal: "Wir packen es an." Wenn das nicht der Fall ist, dann hat das einen Hintergrund. Diese Stimme wird zu oft ignoriert und deswegen kommt es heute zu maßlosen Überforderungen und dem extremen Anstieg der Krankenzahlen, was psychische Überlastungen angeht.
Wie verhindern Sie selbst einen möglichen Rückfall?
Ich habe meine Antennen und einen Grundschutz aufgebaut, weil ich mir unter der Woche meine Inseln schaffe, wo ich Zeit für mich habe, Sport mache, spazieren gehe oder Zeit mit der Familie verbringe. Ich darf dann auch nichts mehr an diese Zeiten heranlassen. Sonst würde ich mich wieder in die falsche Richtung befördern. Die Pausen sind für mich elementar.
Zu Ihrer aktiven Zeit war Burnout noch eine Art Tabu. Wo sehen Sie die Gesellschaft heute bei dem Thema?
Die Gesellschaft steuert in eine Richtung, die nicht gesund ist, wir bewegen uns an einer Art Limit des Menschlichen. Warum ist ein YouTuber, der Erfolg hat, mit 25 platt und muss in die Klinik? Mit 25 war ich in der Blüte meines Lebens. Und die sind heute platt, also muss ja irgendwas falsch laufen.
Was läuft denn falsch?
Der Alltag hat sich so verändert, dass wir gar nichts mehr körperlich machen. Arbeit fordert uns heute auf eine andere Art, und wir überhören dadurch die Signale der Überforderung. Keiner sagt mehr, dass die Arbeit, die wir machen, anstrengend ist. Wir sitzen ja "nur" herum und tippen ein bisschen mit den Fingern. Opa war von morgens bis abends auf dem Bau. Kam mit Rückenschmerzen heim, hatte Knieschmerzen. Der hat noch gearbeitet. Das heute ist doch easy. Es ist aber trotzdem Arbeit und das müssen wir uns eingestehen. Dass der Alltag sich immer mehr komprimiert in Aufgaben, wo wir noch mehr Möglichkeiten haben, in kürzerer Zeit noch mehr erledigen zu können, macht uns krank. Und wenn wir das Gefühl haben, dass es zu viel ist, dann ist es zu viel.
Was würden Sie den Menschen in der Hinsicht raten?
Wenn ihr an einen Punkt kommt, an dem eure innere Stimme, die normalerweise sagt: "Du kannst um drei Uhr ins Bett gehen und um fünf Uhr bist du fit für den Job", plötzlich anders mit euch spricht, hört auf sie und ignoriert sie nicht. Die verarscht uns nicht. Aber wir hören eher auf Social Media, weil es heißt: "Guck mal, die App ist neu, die ist super, die ist perfekt." Auf das hören wir, aber wenn unser Gefühl uns sagt, uns geht es nicht gut, hören wir nicht darauf. Das müssen die Leute ablegen. Weil der innere Kompass zählt. Dafür braucht man keine App. Wenn ich nicht weiß, wo vorne und hinten ist, dann kann mein Leben nicht in die richtige Richtung gehen. Die innere Stimme erzählt nur mir, was für uns beide gut ist. Und nicht für Oma oder Opa, den besten Freund oder den Arbeitgeber. Es gibt da ein gutes Beispiel.
Welches wäre das?
Wir fahren mittlerweile ein Elektroauto. Bekanntlich regt sich jeder über die Reichweite auf, weil man so lange laden muss. Aber wie schön so 30 Minuten Ladezeit sind, weil man da rausgerissen wird aus dem eigenen Kreislauf. Wie schön sich mal Nichtstun anfühlt. Das kann keiner mehr nachvollziehen. Genau das ist es. Das bewusste Pause machen kann keiner mehr, weil man heutzutage keine Zeit mehr dafür hat.
Auch die Sportwelt ist heute eine ganz andere als damals. Könnten Sie sich vorstellen, in der heutigen Zeit Profisportler zu sein?
Ja, ich würde aber hinsichtlich der Dinge, die ich erlebt habe, anders reinwachsen. Ich hätte viel mehr Lesestoff über das Mentale und Psychische, wo ich mich selbst wiedergefunden hätte. Und dann hätte ich mich selbst abgefangen.
Wie empfinden Sie, wie der Profisport mit dem Thema mentale Gesundheit umgeht?
Die Leute wissen, dass es nicht ohne ist, dass es schnell vorbei sein kann. Und dementsprechend sind sie auch wachsamer. Im Profisport sowieso, da zählt Leistung. Da kann man nicht mehr mit halbem Körper mitmischen, da muss man topfit sein, um überhaupt funktionieren zu können. Und das Thema mentale Gesundheit ist bei allen auf dem Schirm.
Ist der Druck im Profisport heute zu groß? Oder war das schon immer so?
Der war früher genauso groß, aber er hat sich verändert. Die heutige Generation hat sich mit anderen Themen auseinanderzusetzen. Hinzu kommt: Wo wir früher Ruhe hatten, beschäftigen sie sich selbst mit Social Media. Ich würde es als störend empfinden, ich müsste mich umgewöhnen. Aber die heutige Generation wächst damit auf.
Wenn Sie am 50. Geburtstag in die Zukunft schauen: Was soll die für Sie bringen?
Ich hoffe, dass ich weiter gut darauf achte, gesund zu bleiben. Ich mache mir keine Gedanken, dass ich irgendwann mal keine Aufgabe mehr für mich finde. Ich werde immer etwas finden, was mir Spaß macht und was mein Leben bereichern wird. Wie aktuell meinen Job als ARD-Experte zum Beispiel, oder dass ich mein Wissen über mentale Gesundheit an andere Menschen weitergebe.
Und wie verbringen Sie Ihren Ehrentag?
Bei der Wok-WM. Das hat sich so ergeben. Ich habe es auch nicht geplant und habe auch nicht bei ProSieben angerufen und gesagt, dass ich 50 werde. Das sind die Dinge, die sich ergeben. Ich hätte den Geburtstag sowieso nicht groß gefeiert, aber wenn ich mal 70 bin und ich an meinen 50. zurückdenke, weiß ich, dass ich da bei der Wok-WM war.
Und die Ziele werden wahrscheinlich wieder sehr hoch sein, oder?
(lacht). Ja, die waren eigentlich sehr euphorisch, aber ich bin jetzt auf einem anderen Wok, im Vierer, und mir sind, nach dem Titelgewinn letztes Jahr, in diesem Jahr etwas die Hände gebunden, weil unsere Besatzung zu leicht sein wird. Dementsprechend muss ich mich etwas rausnehmen, aber ich bin froh, dass ich mitrutschen darf.
Über den Gesprächspartner
- Sven Hannawald ist zweimaliger Skiflug-Weltmeister, dazu Mannschafts-Olympiasieger. Außerdem schrieb er Geschichte, als er 2002 die Vierschanzentournee mit Siegen auf allen Stationen gewann. 2005 beendete er seine Karriere aufgrund eines Burnouts. Heute ist er unter anderem als TV-Experte tätig.
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