Luca Aerni sorgt mit seinem Sieg bei der Kombination für die größte Sensation der Ski-WM in St. Moritz. Der Schweizer fuhr aus dem totalen Nichts bis hoch an die Spitze und nutzte dabei die Gunst der Stunde perfekt aus.
Manchmal ist es auch im modernen Hochleistungssport noch ganz so, als würden die Geschichten nicht am Reißbrett geplant, sondern wie im Märchen geschrieben. Oft ist das nicht mehr der Fall, in gewissen Sportarten siegen tatsächlich fast ausschließlich die Favoriten.
Beim Ski alpin ist das zum Glück noch etwas anders. Da spielen die Bedingungen eine entscheidende Rolle, weil sie eben nicht immer für alle gleich sind und weil ein besonders schlau präpariertes Material an einem besonderen Tag schon mal Welten ausmachen kann.
Und wenn dann der Athlet auch noch ein Highlight setzt, dann schreibt der Sport solche Geschichten wie die von Luca Aerni. 23 Jahre jung ist der Schweizer und im Weltcup bisher nie erwähnenswert in Erscheinung getreten.
Der Allerweltsfahrer ist Weltmeister
Acht Mal hat er es unter die Top Ten in einem Weltcup-Rennen geschafft, ein Mal einen Europacup gewonnen und zwei Mal die Schweizer Meisterschaft. Man wagt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man Aerni einen durchschnittlichen Profi nennt, der zwar immer dabei ist, aber nie auffällt.
Zumindest nicht bis zu diesem Montag. Da hat Aerni etwas vollbracht, was an ein kleines Wunder grenzt, zumindest ist es aber die größte Sensation dieser Ski-Weltmeisterschaften: Luca Aerni, der Allerweltsfahrer, darf sich ab sofort Weltmeister nennen.
In einem denkwürdigen Rennen setzte sich der krasse Außenseiter nach Abfahrt und Slalom in der Kombination der Männer durch und hatte am Ende genau eine lumpige Hundertstel Vorsprung vor Dauergewinner
Nach der Abfahrt war fast schon Schluss
Dabei hatte es Aerni erst nach einem internen Ausscheidungsverfahren auf die Startliste geschafft. Als Qualifikant schaffte er es nach der Abfahrt gerade noch so auf Rang 30. "Ich habe sehr lange nach der Abfahrt gezittert, ob ich in den Top 30 bleibe. Das war da schon eine Zitterpartie", gestand der Siegfahrer später.
Vor dem Slalom war er noch Lichtjahre entfernt von einem Podiumsplatz, geschwiege denn dem Sieg. Der würde nur über Alexis Pinturault zu erringen sein, der Franzose galt bei nur 1,46 Sekunden Rückstand auf die Spitze als der haushohe Favorit vor dem Slalom.
Aber Aerni packte die Möglichkeit beim Schopf. Als Erster durfte er im Slalom auf die Piste und nutzte die hervorragenden Bedingungen mit einem Traumlauf perfekt aus. Als nur drei Starter später Hirscher seinen Lauf absolviert hatte und diesen Wimpernschlag hinter Aerni ins Ziel flog, hatte der Schweizer schon eine leise Vorahnung.
"Ich schlottere immer noch"
Da standen aber noch 26 Fahrer oben und die 45-minütige Wartezeit in der Leader’s Box wurde zu den schlimmsten Momenten seiner Karriere. "Ich war im Ziel noch nie so nervös, schlottere immer noch. Habe so lange wie möglich versucht, nicht davon zu träumen."
Mit jedem Fahrer, der an seiner Bestzeit förmlich zerschellte, wurde der Traum vom großen Wurf immer realer - auch wenn er selbst eine halbe Stunde nachdem das Endergebnis feststand, immer noch ungläubig aufs Tableau schauen musste.
"Ich habe mir gedacht: Ich habe einen wirklich guten Lauf gemacht - aber gerechnet habe ich nicht, denn ich habe mir gedacht: Die anderen haben einen guten Vorsprung und werden vorfahren", sagte Aerni. Aber nichts dergleichen passierte. "Ich habe dann irgendwann gemerkt, dass es reicht. Aber ich Weltmeister? Ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben. Es ist einfach unglaublich! Ich kann das nicht verstehen, wirklich nicht…"
Die Piste half kräftig mit
Die Piste auf der Corviglia wurde von Fahrer zu Fahrer schlechter, die tiefen Rillen der letzten Wettkampftage traten immer weiter hervor und machten es den letzten 15 Startern nahezu unmöglich, die Zeit von Aerni zu erreichen. Der Schweizer wurde zum Begünstigten der äußeren Verhältnisse und tat seinen Teil, um die größte Sensation der letzten Jahre in den St. Moritzer Schnee zu zaubern.
Es sollte offenbar einfach so sein an diesem Tag, anders lässt sich diese Cinderella-Story nicht erklären. Dass dann am Ende die knappste aller Entscheidungen herhalten musste, passte komplett ins Bild. "Die Hundertstel reißen mir in diesem Winter echt die letzten Haare aus dem Körper. Langsam ist es genug", sagte ein sichtlich genervter Hirscher.
Luca Aerni dagegen wurde durchgereicht von einem Mikrofon ans nächste. Und als die Anspannung dann irgendwann nachließ und er nicht mehr zittern musste, fand er auch erstmals Zeit, diese besonderen Momente ein wenig zu genießen: "Es war ein Traum. Aber jetzt ist alles real. Und wirklich wunderschön!"
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