Ende März wurde Schiedsrichterin Fabienne Michel in einem Drittliga-Spiel sexistisch beleidigt. Der Vorfall zeigt, mit welchen Problemen der Fußball noch zu kämpfen hat. Wir haben mit Kriminologin Dr. Thaya Vester darüber gesprochen.
Wiederholen muss man die Fan-Gesänge nicht, die gegen Fabienne Michel angestimmt wurden. Es muss reichen, wenn man sie als das benennt, was sie sind: unterste Schublade. Fast vier Wochen sind vergangen, seit die Schiedsrichterin im Drittliga-Spiel zwischen dem SC Verl und Rot-Weiss Essen geschmacklos angegangen wurde, nachdem sie mit einem Essener Spieler zusammengestoßen war, der dadurch ein Gegentor nicht verhindern konnte.
Was seitdem auffällt: Es wurde über das Thema berichtet, einen lauten Aufschrei hörte man allerdings nicht. Auch kaum öffentliche Diskussionen oder Aufarbeitungen inklusive breiter Solidaritätsbekundungen, zum Beispiel durch den Deutschen Fußball-Bund (DFB). Ja, es wurde berichtet, allerdings mit weitaus weniger Durchschlagskraft, als man es erwarten könnte. So wirkt es zumindest, denn inzwischen ist das Thema wieder ein Stück weit in den Hintergrund gerückt.
"Der Vorfall hat doch durchaus etwas bewirkt"
"Der ganz große Aufschrei blieb aus, aber der Vorfall hat doch durchaus etwas bewirkt", sagt Kriminologin Dr. Thaya Vester im Gespräch mit unserer Redaktion. "Man hat gemerkt, dass Menschen auf das Thema aufmerksam wurden, die es bisher noch nicht waren."
Vester beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit den Themen Gewalt, Rassismus und Sexismus im Fußball, dabei auch speziell gegen Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, hat im Auftrag des DFB dazu intensiv geforscht. Für sie ist es ein Dauerthema geworden, weil es im Fußball ebenfalls eines ist. "Und ja: Es ist schlimm, was da passiert ist, aber ich könnte jetzt 20 andere Fälle aus diesem Jahr aus der Schublade ziehen, denn Schiedsrichterinnen passieren sogar noch ganz andere Dinge", sagt sie. Trotzdem seien die Vorfälle in Verl menschenverachtend und müssten Reaktionen hervorrufen.
Dass die diskriminierenden Gesänge medial zunächst nur vereinzelt auftauchten und erst durch eine Recherche der "Sportschau" einem größeren Publikum zugeführt wurden, die Vereine nur verzögert reagierten und der DFB überhaupt erst aufgrund der Berichte Ermittlungen einleitete, verwundert Vester nicht, denn: "Sexismus ist ein Normalzustand im Fußball". Was also auf den ersten Blick wie ein Einzelfall erscheint, steht exemplarisch für ein viel tiefer liegendes Problem.
Denn dieser Sexismus ist so allgegenwärtig, dass man ihn gar nicht unbedingt immer als solchen erkennt. Oder dass es dann heißt, dass Frauen so etwas abkönnen müssen, denn schließlich wissen sie ja, worauf sie sich einlassen, wenn sie im Fußball tätig sind. Denn da geht es eben etwas rustikaler zu, auch verbal. "Was aber auch bedeutet, dass man sich darüber im Klaren ist, dass Frauen anders behandelt werden als Männer", so Vester. Denn männliche Schiedsrichter werden zwar auch beleidigt, Schiedsrichterinnen werden aber aufgrund ihres Geschlechts herabgewertet.
Es soll sich gar nichts ändern
Und das sei das eigentlich Interessante daran, betont die Kriminologin: "Dass man an diesem Status Quo sehr gerne festhalten und gar nichts ändern möchte." Denn es sei offenbar doch nicht so schlimm, dass man es ändern müsse, so Vester: "Weil viele dann doch Gefallen daran finden, dass man eine wie auch immer geartete Männlichkeit noch ausleben kann." Schiedsrichterinnen stehen dabei besonders im Fokus: "Frauen können Fußball spielen, Fußball schauen, aber sich dann noch von der Frau die Regeln erklären zu lassen, geht vielen dann doch zu weit", so Vester.
Das Schlimme daran: Viele Schiedsrichterinnen nehmen hin, dass es zu Diskriminierungen kommen kann. Nach dem Motto: "Zum einen Ohr rein, zum anderen wieder heraus." Es ist gut möglich, dass Michel die Gesänge auf dem Platz also zunächst gar nicht wahrgenommen hat. Wie die "Sportschau" berichtet, seien die Gesänge in der Nachbesprechung mit dem Schiedsrichterbeauftragten kein Thema gewesen, im Spielbericht vermerkte sie die Vorfälle auch nicht. Äußern möchte sie sich aktuell nicht.
Es springen viele Schiedsrichterinnen wieder ab
"Das Problem ist: Das Dunkelfeld ist so extrem groß, und so wenige Vorfälle werden gemeldet, dass man sich fragen muss: Wie kann das denn überhaupt sein?", fragt Vester und liefert die Antwort gleich mit: "Weil man davon ausgeht, dass eine Meldung sowieso nichts bringt, was ja auch schon viel aussagt."
Denn im Referee-System haben es Frauen nicht leicht. In der Saison 2023/24 gab es nur 2.671 aktive Schiedsrichterinnen, was einer Frauenquote von 4,57 Prozent entspricht. Dafür gab es einen Dropout von 27,6 Prozent, das heißt fast jede dritte Schiedsrichterin hat im Laufe der vergangenen Saison den Fußball wieder verlassen. Die Werte waren sogar schon mal deutlich höher. Bei den Männern waren es übrigens nur 17,2 Prozent. Es bleiben bei den Frauen somit nur die "Extrem-Resilienten übrig", so Vester.
Kleinlich und unbequem, kompliziert und sensibel
Diejenigen also, die sich durchbeißen und dann so abgehärtet sind, dass schon extrem viel passieren muss, bis sie sich wehren. Ein Teufelskreis, denn wer sich beschwert, gilt schnell als kleinlich und unbequem, als kompliziert und zu sensibel. "Was dazu führt, dass man irgendwann nicht mehr meldet", so Vester. Dabei müsste genau das passieren, damit sich etwas ändert, damit deutlich schneller etwas unternommen wird. "Und solange sich immer wieder Frauen finden, die das ertragen, führt es dazu, dass sich die Männer darauf ausruhen können – es beschweren sich ja nicht alle, so schlimm kann es also gar nicht sein", sagt Vester.
Dabei könnte es vielleicht sogar hilfreich sein, wenn sich Schiedsrichterinnen bereits über Kleinigkeiten beschweren würden, über jeden "Zurück in die Küche"-Spruch, der harmlos wirken mag, aber vor Sexismus trieft. "Das ist so alltäglich, dass das selbst viele Schiedsrichterinnen nicht mehr erkennen und vor allem nicht die, die im System bleiben", betont Vester.
Der DFB hat das Problem erkannt
Ein Verband wie der DFB ist ein großer Tanker, der manchmal etwas unbeweglich ist, weil ihn die unterschiedlichen Meinungen innerhalb der Abteilungen bremsen.
Doch es bewegt sich immerhin etwas, was unter anderem die Studie über Diskriminierungen gegen Schiedsrichterinnen belegt, mit der Vester beauftragt wurde. "Man ist sich des Problems bewusst und bereit, sich mit dem Themenfeld auseinanderzusetzen", sagt Vester. Sie erkennt dabei aber auch eine "gewisse Hilflosigkeit, wie man damit umgehen und es bekämpfen soll, weil es auch so tief verankert und so ein großes Thema ist."
Was sich auch daran zeigt, dass es noch immer kein Urteil zu den vor fast drei Wochen eingeleiteten Ermittlungen gibt. Auch das ist nicht unproblematisch, denn wie erwähnt ist das Thema schon wieder in den Hintergrund gerückt. "Vielleicht sind nicht wenige froh, dass man erstmal wieder Gras über die Sache wachsen lassen kann. Und sich nicht schon wieder oder immer noch damit beschäftigen muss. Dass man es möglicherweise einfach so abhaken kann."
Trotzdem sei es gut, dass überhaupt über den Vorfall diskutiert wurde. "Aber auch nur dann, wenn die richtigen Schlüsse daraus gezogen werden. Wenn sich jetzt alle nur einmal kurz empören, es eine Geldstrafe gibt und danach geht es dann wieder einfach weiter, dann haben wir nicht wirklich etwas gewonnen", betont Vester.
Niedrigschwellige Möglichkeiten im Stadion
Sie plädiert dafür, dass es im Stadion selbst niedrigschwellige Möglichkeiten geben soll, Vorfälle zu melden. "Wenn ich zum Beispiel dafür einen QR-Code auf meinem Sitz hätte, der möglicherweise auch einen erzieherischen Effekt hätte. Denn wenn ich so einen Sticker am Platz vor mir sehe, halte ich mich mit der einen oder anderen Äußerung zurück", schlägt Vester vor: "Man muss dafür sorgen, dass die Informationen schnell und simpel bereitstehen. Jeder sollte sich positionieren können." Damit die sexistischen Gesänge irgendwann kein Normalzustand mehr sind.
Verwendete Quellen:
- Sportschau: Der Aufschrei bleibt aus
Über die Expertin:
- Dr. Thaya Vester ist akademische Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen. Außerdem ist sie Mitglied der DFB-Projektgruppe "Gegen Gewalt gegen Schiedsrichter*innen" sowie der DFB-Expert*innengruppe "Fair Play – gegen Gewalt und Diskriminierung".